Trügerische Westalgie

Neoliberalismus Lexikon der Leistungsgesellschaft: Die Rückwendung auf das Leben in der Bonner Republik erfährt gerade ein Revival. Dahinter steckt mehr als ein reaktionäres Gefühl
Ausgabe 38/2019

Es war eine heile Welt – damals. Die Kinder spielten vor dem Garagentor Basketball, im Ofen in der Küche legte sich schmelzender Scheibletten-Käse sanft über Dosen-Ananas, Schinken und Toastbroat und im Wohnzimmer hatte jemand bereits vorsorglich das ZDF eingeschaltet, wo später Frank Elstner internationale Stars bei Wetten, dass..? begrüßen sollte.

Die Rückwendung auf das Leben in der gemütlichen Bonner Republik der 70er und 80er Jahre erfährt gerade ein Revival. Während der Blick auf das Leben in Ostdeutschland aktuell weniger Ostalgie und dafür stärker die Umwälzungen nach der sogenannten Wende fokussiert, blickt man im Westen auf die Ära des Rheinischen Kapitalismus – eine Zeit, in der die Unwägbarkeiten des Kapitalismus noch verkraftbar erschienen, sich die Abstiegssorgen der „Mitte“ noch in Grenzen hielten und trotz Kalten Kriegs die Welt halbwegs geordnet war.

Um in Erinnerungen zu schwelgen braucht es keine entwerteten Erfahrungen und Erinnerungen, die vielen Menschen in Ostdeutschland zu schaffen machten. Als Sehnsuchtsort funktioniert eben auch der Westen. Das Gefühl der Westalgie brachte kaum jemand besser zum Ausdruck als die als Punk-Band getarnten Gesellschaftschronisten Die Chefdenker. „Im Karstadt-Kaffee war die Welt noch okee/ Ich war jung ich hatte Ziele, nicht nur zwei sondern ganz viele.“

Die Westalgie ist die Sehnsucht nach einem Leben, das wohl eher in der Rückschau sorglos daherkommt. In der BRD gab es ab Mitte der 1970er wieder Massenarbeitslosigkeit, über der Bevölkerung in Deutschland schwebte mit Ronald Reagan im Weißen Haus wieder das Damoklesschwert eines Krieges, nicht so weit weg von der Staatsgrenze explodierte ein Atomkraftwerk. Die Folgen der Umweltzerstörung rüttelten Millionen auf und im Kino riss ein weißer Hai reihenweise Mittelschicht-Kids in die Tiefe.

Wie beim Thema Ostalgie offenbart sich bei den Westalgie-Fans keineswegs nur reaktionäre Sentimentalität. Anstatt die Melancholie überlegen abzuqualifizieren, sollten sich nicht nur, aber vor allem Linke fragen, was sich in der Sehnsucht eben auch ausdrückt. Der Fokus auf das Zurückliegende, so geschönt und glatt es auch erscheinen mag, offenbart die düsteren Aussichten, die viele haben. An dieser Stelle treffen Ostalgie und Westalgie aufeinander: Auf einen Seite war man der Zukunft zugewandt, auf der anderen Seite träumte man vom ewigen Wohlstand. Verloren haben beide Seite vor allem eines: ein Morgen, auf das es sich zu hoffen lohnt.

Sebastian Friedrich ist Journalist und führt in dieser Kolumne sein 2016 als Buch erschienenes Lexikon der Leistungsgesellschaft fort, welches veranschaulicht, wie der Neoliberalismus unseren Alltag prägt

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