"Tschau Kiew"

Ukraine Der Gasstreit hat verdeckt, dass die Ukraine mit einer Wirtschaftskrise zu kämpfen hat. Die Preise steigen, die Arbeitslosigkeit nimmt zu - und Städte werden leerer

Ein letzter Blick zurück, dann steigt die Dame mit der dicken Wollhaube und dem Filzmantel in den Transporter am Busbahnhof von Kiew. „Tschau Kiew“, sagt sie und setzt sich neben ihren Mann ins Auto. Luzk steht auf dem Kartonschild in der Windschutzscheibe. Es geht in die Provinz. Zurück aufs Land nach zehn Jahren in der Stadt.

Die Endvierzigerin hat Kiew samt Familie den Rücken gekehrt – und mit ihr tun es viele derzeit. Vorbei die Zeiten, da Kiews Wohnsilos überquollen mit jenen, die aus der Provinz kamen, in der Metropole ihr Glück zu suchen. Stadtflucht, davon spricht man heute. Die Grund: Das Leben ist zu teuer, auf dem Land ist es billiger.

Arbeitslosigkeit steigt rasant

Seit die weltweite Finanzkrise die Ukraine in eine massive Wirtschaftskrise gerissen hat, steigt die Arbeitslosigkeit rasant. In der Hauptstadt Kiew liegen Baustellen brach, anderswo sind es Chemie- oder Stahlwerke, von denen ganze Städte leben müssen. Angst vor dem Totalkollaps der Ökonomie, Angst um die eigene Existenz machen sich breit. Wo einst Bürotürme in den Himmel gezogen wurden, pfeift heute der Wind durch verlassene Stahlgerippe. Es fehlt an Geld. Und das war schon so, bevor der Streit um das Gas ausbrach.

„Tschau Kiew“, heißt es für jene, die noch in ihre Heimat zurückkehren können, die noch Verwandte dort haben oder eine Bleibe. Was sie auf dem Land erwartet, ist nicht viel besser als in Kiew. Der einzige Vorteil: „Auf dem Land kann man selbst sein Gemüse anpflanzen“, erklärt ein junger Mann am Busbahnhof, dessen Eltern zurückgegangen sind.

Der Einbruch der Wechselkurse

Letztlich schuld an der schwierigen Wirtschaftslage sei der Einbruch der Währungswechselkurse, sagt Dmitriy Jarosch, ein ukrainischer Wirtschaftsjournalist. Er erklärt es an einem schlichten Beispiel: Entsprach ein Dollar zuvor recht stabil fünf Griwna, so waren es zwischenzeitlich plötzlich zehn. Viele Menschen in der Ukraine bekommen ihren Lohn in Dollar, Kredite laufen in Dollar und ebenso ist es bei den Mieten.

Für Dmitry bedeutete das zum Beispiel, dass sich seine Miete von einem Monat auf den nächsten allein durch den Währungsverfall verdoppelt hatte. Mit dem Ausbleiben von Kreditrückzahlungen schlitterten die Banken in die Krise. Zwischenzeitlich wurde die Geldausgabe eingestellt – weil schlicht keines mehr da war. Kredite werden bis heute nicht mehr ausgegeben. Schließlich sprang der IWF mit einem 16-Milliarden-Kredit ein. Ein Totalkollaps konnte damit zumindest vorerst abgewendet werden.

Werke stehen still

Dennoch versetzt die Krise eine noch bis 2007 deutlich wachsende Ökonomie in einen depressiven Zustand. In den Supermärkten sind die Produkte durchweg um ein Drittel teurer als noch im Sommer. In den Regalen findet sich kaum noch Importware, weil sich das die Händler nicht mehr leisten können.
Die Produktion habe sich in vielen Branchen halbiert, so ein Analyst der Erste-Bank in Kiew, es gäbe Unternehmen, in denen sich nichts mehr bewege, blicke man beispielsweise auf die chemische Industrie, deren Werke wegen der Gaskrise abgeschaltet wurden. Die Stahlindustrie reduzierte die Produktion um ein Viertel. Später wurde sie ebenfalls ganz eingestellt. Damit sind die wichtigsten Exportbranchen und zugleich Massenindustrien betroffen. Die Kosten für die Produktion und die Preise auf dem Weltmarkt standen in keiner Relation mehr zueinander.

Wo die Werke still stehen, stehen die Menschen auf der Straße. Fast eine Million Ukrainer werden im Januar ohne Arbeit sein, so eine offizielle Prognose – das verheißt den Ruin ganzer Städte, die von diesen Industrien abhängig sind. Kleinkriminalität grassiert – es häufen sich Fälle, da Menschen an Bankautomaten das Geld aus der Hand gerissen wird, nicht von geübten Straßendieben, sondern von Menschen, die wegen der Krise alles verloren haben.

Trotz allem zelebriert die schmale Kiewer Mittelschicht weiter ihr gewohntes Leben – während andere die Stadt verlassen. „Würden wir Cocktails trinken, wenn wir in der Krise steckten?“, fragt ein junger Karrierist nach Dienstschluss in einer Bar der Stadt. Dass im Zentrum soeben mit viel Pomp ein Versace-Shop eröffnet hat – gleich neben einer Bentley-Boutique, kommentiert er mit Galgenhumor: „Auch mit einer teuren Krawatte kann man sich erhängen.“


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