Türkei, Syrien, Iran, Irak: Krieg ohne Grenzen in kurdischen Gebieten

Meinung Die Türkei fliegt seit einigen Tagen Angriffe auf kurdische Gebiete im Nordosten Syriens. Der Iran bombardiert kurdische Ansiedlungen im Nordirak. Von der NATO oder der internationalen Gemeinschaft gibt es bisher keine Reaktion
Türkische Truppen am Rande der syrischen Stadt Afrin
Türkische Truppen am Rande der syrischen Stadt Afrin

Foto: Bakr Alkasem/AFP/Getty Images

Mahabad, Kobanê, Südkurdistan – die kurdischen Gebiete in Iran, Nordsyrien und Nordirak stehen dieser Tage unter Belagerung und Beschuss. Zivilist:innen werden getötet, Infrastruktur bombardiert, Menschenrechte systematisch verletzt. Die Bevölkerung ist einer existentiellen Bedrohung ausgesetzt. Bisher gibt es keine Reaktion der NATO oder internationalen Gemeinschaft, um diese Gewalt zu beenden – das UN-Völkerrecht hat ausgedient. Es wird in dieser krisenhaften Welt geschwiegen, um fragile Bündniskonstellationen nicht zu gefährden.

In Mahabad im kurdischen Nordwesten des Iran kommt es seit Wochen zu Protesten. Erst diese Woche sind iranische Polizei und Militär mit Panzern einmarschiert und haben wahllos auf Demonstranten geschossen. Die genaue Zahl der Toten ist noch unbekannt, weil die Stadt unter einem Lockdown des Militärs steht und das Internet gedrosselt ist. Auch im Nordirak bombardiert das iranische Regime Ansiedlungen und Zentralen kurdischer Parteien aus dem Iran, die seit Jahren nur aus dem Exil agieren können. Und gleichzeitig finden in Nordostsyrien in diesen Tagen größere Angriffe seitens der Türkei statt. Nur mit russischer und US-amerikanischer Freigabe des Luftraums war es Präsident Erdogan möglich, die Luftangriffe vergangenes Wochenende zu beginnen. Seitdem gehen die Bombardierungen weiter, mit Kampfflugzeugen, Artillerie und Drohnen werden grenznahe Orte in Rojava beschossen. Bisher starben mindesten elf Zivilisten.

Es war nur eine Frage der Zeit, bis das türkische Militär Angriffe auf das Gebiet der autonomen Selbstverwaltung in Nordostsyrien startet. Seit April kündigt der türkische Präsident an, eine weitere Militäroffensive zu beginnen und eine „Pufferzone“ an der Grenze zu errichten – wie auch schon 2019, als im Oktober Hunderttausende vor den türkischen Angriffen fliehen mussten und das Gebiet um Serêkaniyê anschließend von radikal-islamistischen Milizen besetzt wurde. Bis heute sitzen Zehntausende in Flüchtlingslagern. Die geopolitischen Akteure vor Ort, Russland und USA, hatten bisher kein grünes Licht für eine erneute Bodenoffensive gegeben. Nun ist Erdogan besser aufgestellt.

Erdogan droht mit Bodenoffensive in Nordostsyrien

Der Anschlag auf der Istanbuler Istiklalstraße dient ihm als Vorwand für die aktuellen Angriffe. Schon am Tag des Anschlags verkündete der türkische Innenminister Soylu: „Der Befehl zum Anschlag kam aus Kobane“ und machte die PKK und PYD verantwortlich. Trotz immer zahlreicher werdender Ungereimtheiten, fehlender rechtsstaatlicher Ermittlungen und erheblichen Zweifeln von Sicherheitsexperten hält Erdogan an dem Narrativ fest. Denn im Juni 2023 sind Parlaments- und Präsidentschaftswahlen und die Umfragewerte der AKP sind aufgrund einer massiven Wirtschaftskrise im Keller. Es ist eine inzwischen hinlänglich bekannte Methode der AKP-Regierung, Terroranschläge für die Mobilisierung nationaler Einheit zu instrumentalisieren. Besonders wenn Referenden oder Wahlen anstehen, ist die Sicherheitspolitik ein Vehikel, um die Bevölkerung zu mobilisieren. So auch jetzt. Erdogan droht inzwischen mit einer Bodenoffensive in Nordostsyrien.

Sollte es dazu kommen, ist die Zukunft der demokratischen Selbstverwaltung mehr als unsicher, der Bevölkerung stünde Flucht und Vertreibung bevor. Auch der IS wird diese Chance für sich zu nutzen wissen. Im berüchtigten al-Hol Lager brodelt es. In den Gefängnissen der Region sitzen tausende IS-Kämpfer, auch aus dem Ausland. Diese Orte im Falle eines größeren Angriffes weiter zu kontrollieren, ist eine riesige Herausforderung. In der Vergangenheit hat der IS genau solche Momente genutzt, um den Aufstand zu proben. Ein Pulverfass, das zu explodieren droht, sollte es keine internationale Unterstützung geben.

Auch dieser Krieg muss beendet werden. Ein Eingreifen ihrer NATO-Partner muss die türkische Regierung jedoch nicht befürchten. Auch die Bundesregierung gibt sich bisher sehr zurückhaltend. Den Besuch von Innenministerin Faeser zu Beginn der Woche bei ihrem türkischen Amtskollegen hat sie nicht genutzt, um den völkerrechtswidrigen Angriff zu verurteilen. Wieder einmal wird deutlich, dass es nicht um „feministische Außenpolitik“, um Menschenrechte oder Demokratie geht, sondern um Geopolitik und Machtkämpfe in einer neu entstehenden Weltordnung. Das internationale Völkerrecht ist darin schon länger zu einer rhetorischen Worthülse verkommen.

Anita Starosta ist Referentin für Syrien, Türkei und Irak bei medico international. Sie bereist die Region regelmäßig und war zuletzt im April 2022 in Nordostsyrien. Medico international unterstützt seit zehn Jahren die demokratischen Entwicklungen in Nordostsyrien.

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