Mein Kopf muss ein wenig Denkpause machen, deshalb schreibe ich heute mal nicht über Inhalte, sondern nur über Äußerlichkeiten. Aber was heißt da „nur“? Die Schönheiten des Sommers werden im Winter gemacht. Ich weiß, ich bin ein wenig spät dran. Ja, ich gebe zu, ich hungere, radle und laufe mir einen Wolf, um ansatzweise als attraktive Frau wahrgenommen zu werden. Meine Oberflächlichkeit erschreckt mich immer wieder.
Meine Schwester in der Türkei beruhigt mich indes, dass ein Gramm Fleisch tausend Makel verdecke, aber das ist auch wieder so ein typisch türkischer Spruch, er dient nur dazu, noch mehr zu essen. Also habe ich meine Laufschuhe entstaubt und versuche, meine Waldrunde zu drehen, ohne Schneckenalarm auszulösen. Mein Rad allerdings ist kein Saisonartikel, das benutze ich wetterunabhängig das ganze Jahr. Wenn man sich umschaut, wer alles Rad fährt, sind selten Türken dabei. In Kreuzberg ist es meine Lieblingsbeschäftigung, Türken auf Fahrrädern zu zählen. Über zehn komme ich nie. Die meisten von ihnen sind Rentner, die sich rechts und links Einkaufstüten an den Lenker hängen. Manchmal ist ein Yuppie-Türke dabei, der einen mit seinem Rennrad fast über den Haufen fährt. Natürlich trägt keiner einen Helm. Frage: Haben Sie jemals einen türkischen Mann mit Fahrradhelm gesehen? Ich auch nicht.
Um herauszufinden, wie viele von den 200.000 Türken und Türkischstämmigen in Berlin Rad fahren, habe ich versucht zu recherchieren. Leider gibt es keine Statistik oder Untersuchung, sodass mir nichts anderes übrig bleibt, als sehr subjektiv zu berichten. Die große Mehrheit in meinem türkischen Umfeld fährt kein Rad und hat nicht vor, es in Zukunft zu tun. Radfahren gilt als arm und unsexy.
Mein erstes Rad bekam ich mit zehn. Meine Freundin Claudia hatte ein hellblaues Modell, an dem ein kleiner Wimpel hing. Ich habe meinen Vater so lange genervt, bis er mir endlich auch ein Rad kaufte. Bis heute ist er leidenschaftlicher Mercedes-Fahrer und konnte meine Sehnsucht nicht ganz nachvollziehen. Die Türken in unserer Nachbarschaft rümpften die Nase über ihn, dass er es seiner Tochter überhaupt erlaubte. Für mich war Radfahren also auch ein Stück Rebellion gegen die Traditionen. Meine Geschwister sind nie leidenschaftliche Radfahrer geworden. Sie werden nie verstehen, dass Radfahren nichts mit sozialem Status zu tun hat.
Türken finden Radfahren also uncool. Ein Auto gilt als Statussymbol, Radfahren als unmännlich. Frauen lassen sich lieber kutschieren, als auf ein Rad zu steigen. Und unpraktisch ist es auch. Lieber stehen sie im Stau. Vielleicht kann man die Türken mit dem Gesundheitsgedanken auf das Rad bringen. Aber ich bin skeptisch. Die einzige Chance besteht wohl darin, bei den Kleinsten anzufangen. Meine Tochter zum Beispiel besitzt ein Fahrrad, seit sie zwei Jahre alt ist. Wenn ich sie frage „Auto oder Rad?“, ist sie für das Rad. Die jungen Deutschtürken wären vielleicht zu begeistern, wenn sie verstünden, dass man in der Stadt mit dem Rad schneller an sein Ziel kommt. Wie ich allerdings erklären soll, warum ich im Kreis laufe, ohne irgendwo anzukommen, weiß ich nicht. Ähnlich ist es übrigens mit dem Erkunden von Landschaften. Lieber sitzt man auf der Wiese, grillt und schaut sich die Natur von der Ferne an. Oder man holt sie sich ins Wohnzimmer – in Form einer überdimensionalen Fototapete. Ein zutiefst postmodernes Naturverständnis.
Kommentare 18
Jetzt verstehe ich endlich, warum es mir wirklich "komisch" und "unpassend" vorkam, als ich einmal Cem Özdemir auf dem Fahrrad gesehen habe...
Eine weitere Sache die mir aufgefallen ist, so als halb-Lateinamerikaner, der sich ein Leben ohne Hund und Katze gar nicht vorstellen kann: Warum mögen Türken keine Hunde/Katzen? oder warum besitzen so wenige von ihnen welche? Oder ist das falsch beobachtet?
es gibt eine kleien studie / abschlussarbeit von 2 jungen, feutschen türkinnen, die dieser frage nachgegangen sind.
das ergebnis war, dass hunde bei türken, weil unreines tier für moslems, nur sehr selten vorkomen, und wenn, dann als wach- oder jagdhund. auch die katze ist ein sehr wenig verbreitetes tier. trotzdem haben sehr viele türkische haushalte haustiere, allerdings halten sie sich vögel und fische.
soweit ich mich erinnere, bestand der unterschied von türkischen zu deutschen türken darin, dass der anteil tierhaltender haushalte in deutschland geringer als im herkunftsland war und hund, bzw. katzen anteilsmässig geringfügig stärker vertreten waren.
deshalb schreibe ich heute mal nicht über Inhalte, sondern nur über Äußerlichkeiten.
Ach, es gibt doch immer eine Dialektik von "Inhalt und Form".
Ein schöner, kluger - ja fast philosophischer Text, der mehr sagt als die ganzen ideologisch-religiös eingefärbten überlichen Beiträge!
Status-Symbole sind doch ganz klare Signale die gesendet werden - ob es nun die verdeckte Armut oder auch der vordergründig verdeckte Reichtum ist .
Herausgestellte "akademische" Besserwisserei oder naiv-kindliche Blödelei mit tief versteckter Weisheit darin - alles dient zum Erkennen und Erkanntwerdenwollen Gleichgesinnter jenseits aller Worte.
Es soll aber auch Mercedes-Besitzer geben, die besonders in Berlin, fast nur mit ihrem Fahrrad unterwegs sind.
Hi! Das ist auch meine Beobachtung. Ich bin in Istanbul geboren und fahre seit Jahren Fahrrad, auch im Winter. Einer meiner Brüder, ebenso. Naja. Danke für den Beitrag.
Nein. Haustiere habe ich nicht. Das wäre mir zu viel Verantwortung.
@jonathan:...."Status-Symbole sind doch ganz klare Signale, die gesendet werden "
Nur musst du den Code kennen, entschlüsseln können. Der Benz beim zugezogenen Kollegen, der SUV bei der Mittelschicht und das >2-3.000€ MTB/RENN/FIXIE/E-Bike/was weis ich/ Rad in Hipster-&Ökokreisen:-)
So wie bei Vielen das AUTO nicht NUR ein Verkehrsmittel , das von A nach B bringt sondern mehr "Anzug, rumgefahrener Kontoauszug, Flitter, Gold, Ausweis zu 'Ich habs geschafft!' " usw um den Hals, auf der Strasse.....ist , ist das auch bei Fahrrädern.
Der Metall gewordene materialisierte Nachweis: Das kann ich mir jetzt leisten :-)) (Dass das ein Firmenwagen ist, die Wechsel schneller laufen als das Auto.... muss man ja nicht dran schreiben:-)
Must mal in der Rad-Scene das "Hähnchengebaren" anschauen. Ist die gleiche Nummer wie überall!
.
Gruss
Sikasuu
.
Ps. Schon mal den neusten Trend miterlebt, gesehen:
Protzrad leger im Flur neben der Garderobe, gar über dem Sofa als Picassoersatz..;-))
Must mal in der Rad-Scene das "Hähnchengebaren" anschauen. Ist die gleiche Nummer wie überall!
Lach - ja - das wäre dann statt Status- der Szene-Kult, der aber auch um nichts besser ist.
Nun ja...das mit dem Gleichgewicht ist auch ist halt ne schwierigee Sache. Und vielleicht hindert auch die Verkleidung aus religiösem Grund da so eineiges.
Sind aber sonst ganz tolle Tageshelden die Türken..fragt sich nur an welchem ?
Bei den Muslimen gelten Hunde als UNREIN. Nach der Berührung mit einem Hund muss der Muslime jedesmals eine rituelle Waschung vornehmen!.... (lt. Auskunft unserer muslimischen Nachbarin).
Fahrrad als Zeichen von "unterer Klasse"... würde mich nicht wundern!
Ich stelle mir gern Erdogan auf dem Radl vor....
:-)
.....und stell dir mal vor, einen Fahrradhelm über seinem Kopfgebinde :-)
das mit dem rad fahren gelangte als mobil-mittel zur pünktlichen erreichung der arbeits-stätte in industrieller zeit zu ehren.
soziale stellung zu demonstrieren, war die kutsche(besonders zu stadt-ausfahrten am sonntag) das geeignetere.
oder wie ein spanischer grande hätte sagen können:
laß doch die arbeit von den menschen mit dunklerer hautfarbe machen.
das rad-fahren ist das gegenteil des müßig-gangs.
das velocipäd("schnell-fuß") kurz: velo, stammt also aus einer fleiß-zeit.
die kutsche ist auch aus einer zeit ohne staatlich/gesellschaftliche transfer-zahlungen,
hatte aber den reichtum durch geburt
und anderer, fremder hände arbeit zur grundlage.
by the way: warum will bayer das häßliche monsanto kaufen(und vom markt nehmen) und nicht die viel peinlichere vw-ag?
zudem: das fahradieren ist mit eigen-sinn(gegenüber öffis),
wildem tun(gegen verkehrs-regeln),
inkorporiertem umwelt-bewußtsein,
gelebter selbst-optimierung hinreichend konnotiert.
luxus/extrem-beschleuniger sind erkennbar,
aber bis sich die image-krücke
gegen (röhrende) motoren durchsetzen kann,
muß wohl die (flüsternde) e-mobil-zeit anlaufen.
Die von der Autorin gemachte Beobachtung trifft zu: Türken (in Berlin) fahren kein Fahrrad. Dafür fahren sie, genauer männl. Erwachsene im Alter von 18-50, etwas anderes sehr gern: PS-starke, sportliche, schnittige Autos, bevorzugt Modelle der beiden großen dt. Nobelmarken. Das ist an sich noch nicht von Übel, nehme ich doch an, sie haben sich die nötigen Finanzen für den Erwerb redlich erarbeitet. Und die vielen, gut florierenden türk. Imbissläden (z.B. in K'berg/F'hain) zeugen davon. Es wird aber dann zum Problem, wenn sie - mit Sportauto-Testosteron angereichert - mir 365-Tage-im-Jahr-Fahrrad-Fahrenden täglich auf Kreuzberger/Friedrichshainer Straßen (oft Oranienstraße) begegnen: rasant, laut, schwellend, die allg. Rücksichtnahme im Verkehr vergessend und oft die Regeln verletzend (Seitenabstand, Vorfahrt usw.) Das trifft auch auf die ärmeren türk. Smart-Fahrer zu. Manchmal, wenn ich sie an der nächsten Kreuzung erreiche, weise ich sie auf ihr Fahrverhalten hin, was ich freilich auch mit dt. Autofahrern mache. Die Reaktionen aus der türk. Gernegroß-Community sind beinahe zu 100 Prozent aggressiv, verdeutlicht durch Stinkefinger und verbale Äußerungen unterer sprachl. Fähigkeiten. Das "F"-Wort fehlt nie und außerdem bin ich ein großes "A...", das sich gefälligst um seinen Mist kümmern soll. Auch dt. Autofahrer reagieren mitunter so, bei weitem aber weder in dem Ausmaß noch in dieser Schärfe. Was ich solch angenehmen Mitbenutzern dann jedesmal insgeheim wünsche, werde ich hier nicht hinschreiben. Mit einem Fahrrad jedenfalls - um zurückzukommen - lässt sich schlecht "Ich bin der King auf der Straße" spielen. Und im Allgemeinen gilt: Es wird rauer auf unseren Straßen.
Ich verstehe das alles nicht.
Es ist genau das gleiche Thema wie beim Thema E-Bikes.
Egal ob "unmännlich" oder "unsportlich", irgendetwas ist immer. Autos als Statussymbol, okay. Aber was ist mit dem Körper, ist dieser etwa kein Statussymbol? Stehen Benzin, und Abgase vor gesunder Lungenfunktion und gesundem Herzen?
Ewige Diskussionen ob Fahrrad fahren "cool" ist, oder nicht. Was für einen Mehrwert diese sportliche Aktivität aber mit sich bringt und wie "cool" sie dadurch wirklich ist, bedenkt niemand. Jedem seins, und wenn man lieber ins Auto steigt als aufs Fahrrad steigt, nun dann ist das eben so.
Ich persönlich kann mich jedoch mit der Aussage Fahrrad fahren wäre unmännlich jedoch nicht identifizieren.