Turbulenzen in der Dämmerzone

Medientagebuch Frühstücksfernsehen: das ist Bunte Illustrierte und Kuriositätenschau, Welt-Panorama und Zeitgeschichte im Kompressionsverfahren, Zirkus und Klatsch
Ausgabe 45/2015

Zu Beginn des Frühstücksfernsehens von RTL plus sagt Moderator Christian Schröder „Guten Morgen, Deutschland – hallo, Europa“ und begibt sich vor einen Großbildschirm, auf dem die Wolken dahinjagen wie in einem Kluge-Film. Was er uns als erstes zu bieten hat, bevor Deutschlands erfolgreichster Kommerzsender die Welt ganz neu erschaffen wird, ist die allgemeine Wetterlage. Es ist sechs Uhr, und Schröder, ein sympathischer junger Mann, locker, auf seine Themen vorbereitet, „professionell“ und von beiläufigem Charme, als dirigiere er das Geschehen auf diesem Erdball buchstäblich im Handumdrehen, wird nun etwa drei Stunden harte Arbeit leisten, ohne dass ihm Schweißperlen auf die Stirn treten.

Zwischen sechs und neun wird bei RTL plus gezaubert. Schröder führt vor, wie man Politik und Kultur, Börsenbericht und Sportreportage, das Neueste aus der Rock-Szene und die aktuellen Modetrends, Werbung und Satire, das Interview und den Fußballtip, die Groteske und den gerafften Monatsrückblick, den Artistenauftritt und die „Unterhaltung für die Kleinen“ (Erstklässler wohl, die um 6 Uhr 30, ihr Nutellabrot kauend, aus verschlafenen Augen Popeyes Zeichentrick-Abenteuern entgegenfiebern) sozusagen aus dem Ärmel schüttelt und die Übersicht auch dann behält, wenn das Tempo forciert werden muss und die Stoppuhr, die in der Bildschirmecke rechts unten mitläuft, Pünktlichkeit für den ersten Werbeblock erheischt.

Frühstücksfernsehen: das ist Bunte Illustrierte und Kuriositätenschau, Welt-Panorama und Zeitgeschichte im Kompressionsverfahren, Zirkus, Varieté und Music Hall, Klatsch, Sensationsjournalismus und wildes Feuilleton - zumeist im Schnellgang und garniert mit den üblichen Tricks aus der Kiste der Computeranimation. Zwischen Maniküre, Müsli und Milchkaffee soll der Mensch, bevor er zum Malocher wird, Bilder frühstücken und den Rhythmus des post-industriellen Welt-Alltags inhalieren.

Fernsehen im Zehn-Minuten-Takt, das Gesamtprogramm aufs Kompakt-Format zusammengepresst. Wer die Zeit zum Zuschauen aufbringt, hat um sieben Uhr zum vierten Mal die Weltnachrichten gesehen. Ihre Kurzfassung für den Nebenbeiseher, der beim Frühstück schon seine Kopfschmerztabletten sucht und gleichzeitig seine ersten Telefonate erledigt ist mit Musik aus dem Keyboard unterlegt, als gelte es, das Weltgeschehen auf Trab zu bringen. Außenpolitik und Hochwasserkatastrophen in vibrierende Schwingungen zu versetzen, Lebenshilfe und Bombenunterhaltung im Witzblatt-Stil: wer um sieben Uhr zehn noch dabei ist, hat zum zweiten Mal erlebt, wie ein kostümierter Schimpanse namens Willi Graf Lambsdorff interviewt. Live: eine Sozialpädagogin, zu einer neuen Karriere als „Feuerspuckerin“ entschlossen, produziert Flammen im Studio; gleich darauf plaudert Magier Schröder mit Heinz G. Konsalik über dessen neuen Roman; ein Filmbericht aus dem Pekinger Zoo kolportiert Possierliches über einen jungen Pandabär, FDP-Generalsekretärin Cornelia Schmalz-Jacobsen erteilt Auskunft über das Vermögen der Blockparteien, und „nach Exklusivinformationen des RTL plus-Frühstücksfernsehens“ drängen Ägypten und Saudi-Arabien die USA zum Angriff auf den Irak. Es ist sowieso ein toller Tag; Fritz Walter feiert seinen siebzigsten Geburtstag, und im Par-force-Ritt durch das Jahrhundert und die Filmarchive erfahren wir ganz en passant, dass vor einundsiebzig Jahren in den USA die Alkoholprohibition, vor vierunddreißig Jahren der Ungarn-Aufstand und vor achtundzwanzig Jahren die Spiegel-Affäre stattgefunden hat. Zeitgeschichte full speed, aber Entertainer Schröder hat alles im Griff, und letztlich ist der Globus in bester Ordnung.

Frühstücksfernsehen das ist das Universum im Taschenformat. Morgengymnastik für die von Halbschlaf, Traumfetzen und vager Existenzangst belagerten Hirnzellen. Turbulenzen in der Dämmerzone zwischen Nacht und Tag, sportive Aufmunterung zum Einklinken und Mitmachen eine sanfte Droge gegen Ödnis und Ennui. Mit Schwung in den grauen Alltag; nach zwölf Stunden naht ja die Belohnung und verspricht ein rundum erfreuliches Abendprogramm bei RTL plus.

Dieser Text erschien am 9. November 1990 in der ersten Ausgabe des Freitag

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