Typisch Frau!

Pauschalisierungen Schluss mit den Schubladen: Jetzt kommen die Gender-Scores!
Ausgabe 19/2021
Wenn die Medizin auf ihn ausgelegt ist, lebt er auch länger: der Mann
Wenn die Medizin auf ihn ausgelegt ist, lebt er auch länger: der Mann

Foto: Malcom Clarke/Keystone/Hulton Archive/Getty Images

Achten Sie, liebe Lesende, bitte auf Ihren Gender-Score. Im Extremfall entscheidet der über Leben und Tod!

Wie jetzt? Wahrscheinlich ist Ihnen bekannt, dass zum Beispiel ein Herzinfarkt für Frauen tödlicher ist als für Männer. Warum? Der weibliche Herzinfarkt wird oft übersehen, weil Frauen nicht die bei Männern üblichen Symptome entwickeln, sondern andere, etwa Übelkeit. Das hat dankenswerterweise die geschlechtssensible Medizin aufgedeckt und rettet damit Leben. Professorin Vera Regitz-Zagrosek, Mitbegründerin der Gendermedizin in Deutschland, forscht dazu seit 2003 an der Berliner Charité. Jetzt kam raus, dass „das soziokulturelle Konstrukt Gender stärker mit einigen Risikofaktoren für das Herz-Kreislauf-System assoziiert ist als das biologische Geschlecht.“ Oha!

Um aber raus aus den Pauschalisierungen zu kommen, haben Vera Regitz-Zagrosek und ihr Team jenen Gender-Score entwickelt. Auf der Website der Berlin University Alliance erläutern sie ihn so: „Auf der einen Seite der Skala (von 1 bis 100) dominieren mehr männliche Eigenschaften, wie weniger Zeit im Haushalt oder höheres Einkommen. Auf der anderen Seite Eigenschaften, die man eher Frauen zuordnen würde.“

Welche genau das sind, bleibt verschwommen. Deshalb improvisiere ich: Wir haben also auf Score 1 ein krasses Männer-Klischee (= soziokulturelles Konstrukt des männlichen Genders). Merkmale: hohe Stellung, Macht, Geld, Extraversion, Angriffslust, Selbstbewusstsein, Unabhängigkeit, kriminelle Energie, Erfolg und so weiter. Wohlgemerkt: Auch Frauen können theoretisch einen Score 1 erzielen. Für den Hauptgewinn, Score 100, braucht es hingegen wohl „Eigenschaften“ wie prekäre finanzielle Situation, arbeitslos, zurückgezogen, hilfsbereit, kleiner Wirkungskreis, wenig Selbstwirksamkeit, aufopfernd (für Familie). Derartige Personen besitzen ein weibliches Gender. Und wer mit so einem Gender lebt, ist eben in Gefahr. Denn der lebt nicht so gesund.

Man könnte natürlich auch sagen: Es ist nicht so gesund, wenig Geld zu haben und keine Anerkennung zu bekommen. Aber das wäre doch ziemlich umständlich, wenn man diese ganzen Loser-Merkmale doch einfacher zusammenfassen kann: Typisch Frau!

Wenn der Gender-Score erst überall Fuß fasst, wird vieles einfacher. Wenn man den Job verliert und nicht weiß, wo der nächste herkommt, sagt man einfach: „Weißt du, es wurde einfach Zeit, dass ich meine weiblichen Eigenschaften etwas fördere. Mein Gender-Score war erschreckend niedrig.“ Hartz IV wird umbenannt in Frauenunterstützung. Denn echte Männer brauchen so was nicht. Nur völlig verweiblichte kommen dafür in Frage. Echte Männer klauen eher (kriminelle Energie, Aggressionlust und so).

Allerdings finde ich: Der Gender-Score allein reicht noch nicht. Medizinisch mindestens ebenso bedeutsam dürfte mein Nationalitäten-Score sein. Also: Ein Baguette pro Woche: 0,5 Prozent französisch; sechsmal Köfte: 5,6 Prozent libanesisch; zweimal pünktlich gewesen: 1,43 Prozent deutsch; viermal unter der Dusche gesungen: 4,31 Prozent italienisch.

Viele Ärzte fragen auch nach dem Beruf. Was soll das denn bringen? Viel wichtiger ist doch, in welches Berufsklischee mein Arbeitsalltag fällt. Für viele Menschen passt da „Software-Tester“ deutlich besser als die originale Berufsbezeichnung. Ebenfalls nicht zu vernachlässigen: In welches Altersklischee falle ich: Wie griesgrämig, wie egozentrisch bin ich, neige ich zu Risikoverhalten, wie viel Beige trage ich?

Derartige Scores sind kurzum einfach unverzichtbar. Denn viel zu oft wird man einfach schnell in eine Schublade gesteckt.

Susanne Berkenheger ist seit einem Vierteljahrhundert als Künstlerin, Satirikerin und Autorin aktiv. 2015 wurde ihr vom Freitag der Titel „Die Ratgeberin“ verliehen. Sie lebt mit ihrer Familie in Berlin

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