Netzpolitik war sowohl in Deutschland als auch in der EU lange Zeit das Werkzeug einer falsch verstandenen Sicherheitspolitik: Eine Politik des Verhinderns und Einschränkens, die die vielfältigen Chancen und Potenziale des Netzes nicht erkannt, nicht genutzt und nicht vorangebracht hat. Eine Politik der Angst und der Bevormundung.
Ob Vorratsdatenspeicherung, Software-Patente, Kriminalisierung von IT-Sicherheitswerkzeugen oder das hinter verschlossenen Türen verhandelte ACTA-Abkommen zur Verschärfung der Durchsetzungsmechanismen beim geistigen Eigentum – all diese Maßnahmen wurden auf der europäischen Ebene angestoßen und schränken im Ergebnis die Freiheitsrechte der Menschen im Internet massiv ein. Höhepunkt dieser zweifelhaften Politik war der Versuch, Personen, die mehrfach gegen das Urheberrecht verstoßen, nach drei Verwarnungen kurzerhand den Netzanschluss zu kappen. Ein Gedanke, der auf eklatante Weise die fundamentale Bedeutung des Internets für die Lebens- und Arbeitswelt des Einzelnen verkennt. In Frankreich ist dies absurd anmutende Vorhaben inzwischen bittere Realität.
Immer wieder stellten sich Aktivistinnen und Aktivisten gegen die unverhältnismäßigen Vorhaben, immer wieder mussten entsprechenden Gesetzen vom Bundesverfassungsgericht scharfe Grenzen vorgegeben werden. Vorratsdatenspeicherung, Bundestrojaner oder Rasterfahndung sind nur drei Beispiele.
Aufbruchsstimmung weicht Ernüchterung
Der Siegeszug des Internets hält dennoch weiter an. Zu groß sind die Chancen, die es bietet. Mittlerweile wird Netzpolitik in Berlin und Brüssel nicht mehr nur noch beiläufig und am Rande behandelt. Der Bundestag hat eine Enquête-Kommission mit dem Titel „Internet und digitale Gesellschaft“ eingerichtet. In einigen Ministerien wurden zudem Runden mit Netzaktivisten und klassischen Lobbyisten veranstaltet. Und die neue EU-Kommission hat mit Neelie Kroes sogar eine eigene Kommissarin für die „Digitale Agenda“ und sammelt stetig Vorschläge für ihr Arbeitsprogramm. Selbst in Landes- und Kommunalwahlkämpfen spielt Netzpolitik mittlerweile eine immer größere Rolle.
Die anfängliche netzpolitische Aufbruchsstimmung weicht aber immer mehr einer Ernüchterung: Die vom ehemaligen Innenminister Thomas de Maizière erarbeiteten netzpolitischen Thesen wurden von seinem unterkomplex argumentierenden Nachfolger Hans-Peter Friedrich lautlos ad acta gelegt. Absurderweise sollen stattdessen jetzt ein Pseudonymisierungsverbot für Diskussionen im Internet und eine rasche Wiedereinführung der Vorratsdatenspeicherung das Internet „zivilisieren“.
Zudem wird immer klarer, dass auch die EU-Kommission das Potenzial des Netzes zwar erkannt hat, ihre politischen Vorgaben jedoch häufig genau in die falsche Richtung gehen: Statt die neue europäische Grundrechte-Charta durchzusetzen und somit auch die Prinzipien zu schützen, die den Erfolg des Netzes erst ermöglicht haben, fällt sie immer wieder durch sicherheitspolitische Vorstöße auf, die mehr Überwachung und Kontrolle mit sich bringen und das Netz nachhaltig gefährden. Bekanntestes Beispiel ist hier wohl die Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung, an der die Kommission trotz Bedenken zahlreicher Verfassungsgerichte und trotz einem bis heute nicht belegbaren Nutzen für die Strafverfolgungsbehörden unbeirrt festhält. Aber auch vernünftige Ansätze wie die Festschreibung der Netzneutralität werden in Berlin wie in Brüssel zu oft durch Lobbyisten und mangelnden Mut verwässert.
Im Schlechten wie im Guten gilt daher: Die nationalen und europäischen Projekte machen eine Begleitung durch eine starke digitale Bürgerrechtsbewegung erforderlich. Die jüngsten Erfolge dieser Bewegung bei Vorratsdatenspeicherung und Netzsperren sollten nun der Ansporn sein, die netzpolitische Aktivitäten insbesondere auf der europäischen Ebene zu verstärken, wo es noch immer an breiter Wahrnehmung fehlt. Die Zeit für eine digitale und europäische Bürgerrechtsbewegung ist reif, die Vorbedingungen gut: Erste Ansätze einer solchen europaweiten Bewegung gibt es bereits seit Jahren. Sie organisiert sich auf Emaillisten, in Wikis, auf Twitter, und teilweise hat sie bereits angefangen, sich zu professionalisieren. Mit den millionenschweren Lobbyverbänden Brüssels kann sie es aber noch nicht aufnehmen. Das Internet als elementare Errungenschaft mit erheblichen Chancen für die weltweite Demokratie darf aber nicht allein von wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Interessen geleitet werden.
Am Wochenende hat sich die in der Entstehung befindliche europäische digitale Bürgerrechtsbewegung unter dem Vorzeichen „Freedom not Fear“ (Freiheit statt Angst) in Brüssel erneut formiert, um ihren Interessen dort und in Straßburg mehr Gehör zu verschaffen. Die Zeit ist reif für eine europäische digitale Bürgerrechtsbewegung!
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