Über Gesundheit spricht niemand mehr

Im Gespräch Der Arbeitszeitforscher Eckart Hildebrandt über die langfristig irreparablen Folgen des deutschen Sozialdumpings

FREITAG: Deutsche Unternehmen entdecken die Verlängerung der Arbeitszeiten als Königsweg der Kostensenkung. CDU/CSU und FDP verlangen jetzt die 40-Stunden-Woche als Regelarbeitszeit. Was hält der Experte von dieser Debatte?
ECKART HILDEBRANDT: Wir erleben jetzt im großen Stil eine Trendwende, verbunden mit einer sehr selektiven Sichtweise. Es werden nur Kostenargumente betrachtet, ohne auf Produktivität und Innovationsfähigkeit zu achten. Und bei den Kosten werden auch nur die Arbeitskosten berücksichtigt. Vor 15, 20 Jahren ist Arbeitszeit völlig anders diskutiert worden. Mehr Freizeit spielte eine Rolle und was man in ihr macht, also kamen Themen wie Familie, Bildung, zivilgesellschaftliches Engagement ins Spiel. Das wird derzeit überhaupt nicht erwähnt, obwohl die Verlässlichkeit der Freizeit ein wesentliches Element der alltäglichen Lebensführung ist. Gesundheit hat früher auch immer eine große Rolle gespielt, vor allem bei belastenden Arbeitsplätzen. Heute wird dagegen einfach unterstellt, wer 20 Prozent mehr arbeite, produziere auch 20 Prozent mehr - eine völlig unsinnige Annahme, nicht nur unter Produktivitäts-, sondern vor allem auch unter kurz- und langfristigen Gesundheitsaspekten.

Seit 20 Jahren gibt es in einigen Branchen die 35-Stunden-Woche. Ist das für Sie eine angemessene Balance zwischen Arbeits- und Privatleben, zwischen Belastung und Entlastung?
Ja. Eine Reihe von Studien zeigt, dass über 35 Stunden, insbesondere ab 40 Stunden, die Arbeitsbelastung, die Unfallgefahr und die Krankheitsquoten massiv steigen. Es gibt ja auch Befragungen über Arbeitszeitwünsche, und von daher wissen wir, dass die im Durchschnitt bei ungefähr 32 Wochenstunden liegen. Die 35 Stunden sind also ein sinnvolles Maß, zumal dann, wenn man gleichzeitig die Lebensarbeitszeit verlängern will. Denn das bedeutet eine größere Beanspruchung im Alter und ist nur erträglich, wenn man eine altersgerechte Arbeitszeit gehabt hat, die sich nicht als psycho-physischer Verschleiß auswirkt.

Kann dieser deutsche Standard nicht auch zu einem falschen Luxus werden, wenn der Stress gleichsam zur Hintertür wieder rein kommt, weil im Ausland mit geringeren Arbeitskosten und mehr Arbeitszeit produziert wird?
Dass Deutschland im internationalen Vergleich das absolute Komfortsegment von Arbeitszeit darstellt, stimmt nicht. Wenn man die reale Arbeitszeit von Vollzeitbeschäftigten nimmt, liegt Deutschland mit aktuell 39,9 Stunden im Durchschnitt. Für die jährlichen Arbeitstage gilt das ebenfalls. Es ist eher umgekehrt, dass die Bundesrepublik andere Länder mit ihren Initiativen zur Senkung von Sozialstandards unter Druck und so einen negativen Wettlauf in Gang setzt. Ich habe Stimmen aus Tschechien und Polen gehört, dass deutsche Unternehmer dort Kostensenkungsprogramme umsetzen, die sie zu Hause gerade getestet haben, die positiven Standards aber nicht mit rübernehmen. Selbst in den osteuropäischen Ländern wirkt sich also dieses Sozialdumping negativ aus.

Wie könnte man verhindern, dass Beschäftigte gegeneinander ausgespielt werden?
Wenn man auf Betriebsratversammlungen oder regionale Gewerkschaftsversammlungen geht, gibt es in der Tat eigentlich nur ein Thema: Wie gehe ich mit der alltäglichen Erpressungssituation um? Betriebsleitungen argumentieren, dass der Betrieb Aufträge erhalten könne, die Frage sei, was die Beschäftigten dazu geben würden, damit man diese Aufträge bekommt: Ob sie einen Urlaubstag, einen Prozentsatz vom Weihnachtsgeld opfern oder eine bestimmte Anzahl von Überstunden unentgeltlich leisten. Das heißt, jetzt wird das Zentrum der Betriebsökonomie mit der Arbeitssituation der Beschäftigten verknüpft. Und das ist eigentlich die Ungeheuerlichkeit, die man bekämpfen muss.

Sind Arbeitszeitkonten eine realistische und beiderseits akzeptierte Alternative?
Beide Seiten müssen sich erst einmal daran gewöhnen, dass überhaupt Zeit ausgehandelt werden kann und dass dabei die persönlichen Interessen der Beschäftigten eine Rolle spielen. Wir brauchen eine neue Zeitkultur, dazu gehört aber auch Zeithandeln als persönliche Kompetenz, und unabdingbar sind verlässliche Vereinbarungen. Jeder muss Schwerpunkte setzen, muss Folgen von Entscheidungen abschätzen und aushandeln können, in einer Beziehung, in Freundesbeziehungen, im Betrieb. Dadurch entsteht allerdings auch ein beträchtlicher Druck auf den Einzelnen. In der "Mehrarbeitsphase" fragen Familie oder Freunde: "Wann hört das endlich auf? Was bekommst du denn dafür?" Da fragt die Frau ihren Mann beispielsweise, ob er zur Einschulung des Kindes kommen kann. Mit Arbeitszeitkonten werden Entscheidungen viel stärker als bisher legitimationspflichtig. Damit umzugehen, will gelernt sein.

Häufig wird es zu solchen Konflikten gar nicht kommen, weil die Unternehmen bestimmen, wann gearbeitet wird und wann nicht.
Die Mehrzahl der Betriebe hat noch eine anwesenheitsorientierte Zeitpolitik, etwa nach dem Motto: Wer am längsten da ist, ist auch der Engagierteste und macht die beste Karriere. Auch die Personalbemessung steht häufig einer vernünftigen Anwendung von Arbeitszeitkonten entgegen, weil die Produktion mit Minimalbelegschaften gefahren wird, also mit kleinen Stammbelegschaften, für die, trotz Überstunden, Zeitentnahmen nicht vorgesehen sind. Wer es dennoch tut, lädt sich den Ärger der Kollegen auf, die dann eben noch länger arbeiten müssen. Ein anderes Element ist die Kundenbindung: Wenn in kundenbezogenen Projekten gearbeitet wird, hängt die Möglichkeit der Zeitentnahme von den Anforderungen und der Zeitstruktur der Auftraggeber ab. Es müsste also eine Entkopplung von Personal, Kunden und Arbeitsorganisation etabliert werden. Und das ist in der Regel nicht der Fall, was leider häufig dazu führt, dass Kontenbestände in Geld ausgezahlt, in die Zukunft verschoben oder sogar ganz gekappt werden ...

... Ansprüche zu kappen, passt ja auch in die politische Landschaft. Reformen, die über Kürzen und Streichen hinausgehen, gibt es auch dort nicht.
In Deutschland werden die Arbeitsmarktpolitik, die Reform der sozialen Sicherungssysteme und die Bildungspolitik unabhängig von einander betrieben. Für die Beschäftigten ergeben sich dadurch äußerst widersprüchliche Interventionen in ihren Lebenslauf, und es macht sich offenbar niemand in der Politik Gedanken darüber, wie der Einzelne mit den unterschiedlichen Anforderungen fertig werden soll.

Wo sehen Sie Ansätze für eine andere Politik, die heutigen Ansprüchen an die eigene Lebenssouveränität eher gerecht wird?
Eine Alternative wäre das Konzept der sogenannten "life-cycle policies", das in Deutschland bisher kaum bekannt ist, in den Niederlanden und in Schweden aber intensiv diskutiert wird. Der Begriff Lebenslaufpolitik bezeichnet die gesellschaftliche Steuerung von individuellen Lebensläufen, insbesondere durch Versicherungssysteme, durch die Arbeitslosen- und Rentenversicherung. Auch Ausbildungsregelungen wie die Schulpflicht gehören zu den Eckdaten, die der Staat den individuellen Lebensläufen gesetzt hat. Das war der Hintergrund dafür, dass sich so etwas wie Normallebensläufe oder institutionalisierte Lebensläufe herausgebildet haben. Zur Zeit verschwindet nun diese kollektive Lebenslaufpolitik, weil die bisherigen Eckpfeiler - Ausbildung, Berufseintritt, Arbeitslosenversicherung - sich verflüssigen, was zu einer Verlagerung der Verantwortung auf das Individuum führt. Eigentlich müsste es jetzt so etwas wie eine neue Lebenslaufpolitik geben. Ich denke, hier besteht ein großes Defizit der momentanen Reformpolitik, weil sie nicht auf die Individuen zugeschnitten ist, sondern auf die Kosten der sozialen Sicherungssysteme und auf das kurzfristige Überleben von Betrieben. Doch die wichtigste Ressource einer Gesellschaft sind die Menschen, die in ihr leben. Dieser zentrale Referenzpunkt ist in den jetzigen Reformen nicht zu erkennen.

Das Gespräch führte Andreas Kahler


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