Det sind allet keene Phantasielinien, die se hier sehn. Hattet allet mal jejeben«, sagt der alte Mann in der Straßenbahneruniform im Schuppen von Berlin-Nordend. Seit Ende 1999 stehen in der stillgelegten Wagenhalle nur noch die Berliner Museumsfahrzeuge der Straßenbahngeschichte dieser Stadt. An die bejahrten Triebwagen haben die Hobby-Bahner Nummernschilder gesteckt, beispielsweise für die Linie 148, die 57 oder die 199, also alles, was einmal von Nordend nach Südende, von Ost nach West rollte und was schon seit langem nur noch in der Erinnerung von Nostalgikern lebt.
Die Trennung der Berliner S-Bahn am 13. August 1961 war deshalb gewissermaßen nur der Schlussstrich einer radikalen verkehrspolitischen Teilung der Stadt. Nach dem Zweiten Weltkrieg fuhren als e
hren als erstes keine Busse mehr zwischen den Westsektoren und dem sowjetischen beziehungsweise demokratischen Sektor, wie er auch genannt wurde. Auch die Straßenbahn installierte nur mühsam ein gemeinsames Nachkriegsnetz. Schon bald gab es eine westliche und eine östliche BVG-Verwaltung. Nur noch wenige Linien fuhren über die Grenze, beispielsweise die 1 und die 3, die 74, die von Weißensee über den Potsdamer Platz nach Lichterfelde rollte, oder die 95 zwischen Köpenick und Tempelhof. Nach der Währungsreform 1949 gab es erhebliche finanzielle Probleme, es ging um die Bezahlung des Personals in Ost oder West und um die Fahrscheine. Bei den nördlichen Linien 23 und 24, die ebenfalls noch von Rosenthal und Buchholz (Ost) nach Wedding (West) fuhren, liefen die Westberliner über die Wollankstraße Richtung Osten, um schon dort einzusteigen und den billigeren Fahrschein zu lösen. »Nie hab ick sone volle Haltstelle jesehn wie S-Bahnhof Wollank-Ostseite«, erinnert sich der alte Schaffner. Berliner Geschichten aus Wechselstubenzeiten. Als dann auch noch Frauen bei der Ost-BVG die Kurbel drehen durften, war endgültig Schluss. Im Januar 1953 wurde das Netz für immer geteilt. Die 74 aus Weißensee machte am Potsdamer Platz Endstation, ebenso wie die 74 aus Lichterfelde. Wer weiter wollte, musste umsteigen und ein Stück zu Fuß gehen.Von Sputniks und DurchläufernDass es bis zum Mauerbau überhaupt noch ein einheitlich betriebenes Verkehrsmittel, die S-Bahn, gab, lag daran, dass sie wie die gesamte Eisenbahnlandschaft in der Vier-Sektoren-Stadt unter sowjetische, später DDR-Verwaltung kam. Sie war die Schlagader der einstigen Hauptstadt, noch in den fünfziger Jahren wurden einige ihrer Linien in die Vororte verlängert, nach Königswusterhausen, Teltow, Staaken und Falkensee. Wovon die Westberliner Einwohner schon nichts mehr hatten, denn sie durften ab 1952 die Stadt nicht mehr per S-Bahn verlassen. An Grenzbahnhöfen wie Griebnitzsee, Albrechtshof oder Mahlow betraten uniformierte Kontrolleure den Zug und filzten die Reisenden nach eventuellen Westlern. Schon in dieser Zeit dürfte sich die Ablehnung der Westler gegen dieses Verkehrsmittel entwickelt haben. Die Vormauerzeit gebar jedoch auch verrückte Projekte für Funktionäre aus dem Osten. Ihnen, die vielleicht in Ministerien oder anderen Verwaltungen arbeiteten und in Potsdam oder Staaken wohnten, schenkte die Bahn so genannte Durchläufer, die zwischen Friedrichstraße und beispielsweise Griebnitzsee auf keiner westlichen Station hielten, sondern langsam durchrollten. Ich erinnere mich an die Begeisterung meiner Mutter, die mit der S-Bahn zum Ku´ damm wollte, in Gedanken einen Durchläufer bestieg, um eine gute halbe Stunde später statt in Bahnhof Zoo in Albrechtshof hinter der Stadtgrenze landete.Bereits 1952 hatte die Reichsbahn sämtliche Fernbahnhöfe auf Westberliner Gebiet außer dem Bahnhof Zoologischer Garten geschlossen und die aus Süden und Westen kommenden Züge über den so genannten Außenring Richtung Ostbahnhof gelenkt. Auf dieser in großem Tempo gebauten Ausweichstrecke gab es auch schon vor der Mauer einen bescheidenen Verkehr mit Doppelstockzügen in die jenseits der Frontstadt gelegenen Vororte. Damals erfand die SED für diese Züge den netten Namen »Sputnik«, die Bevölkerung gebrauchte das weniger schmeichelhafte Wort »Bonzenschleuder«.Im Sommer 1961 verschärften sich auf der S-Bahn die Kontrollen. Manch einer, der türmen wollte, wie es damals hieß, wurde aus den gelb-roten Waggons geholt. Sie waren gut gefüllt wie immer. An den Sommerwochenenden brachten Verstärkerzüge mit einem roten Dreieck an der Frontscheibe die badelustige Bevölkerung aus Schöneberg und Neukölln über den Südring nach Grünau, aus Charlottenburg nicht nur an den Wannsee, sondern auch ins östliche Friedrichshagen an den Müggelsee. Die Wagen waren rappelvoll. So auch am Sonnabend, dem 12. August, einem schönen Sonnentag. In der auch von Gerüchten überhitzten Stadt schien niemand das Kommende zu ahnen. »Boykottiert die Ulbricht-Schleuder!«Heute stellt sich die Frage, wie viele Leute aus dem eigenen Betrieb von der bevorstehenden Unterbrechung des S-Bahnnetzes gewusst haben. Sicher nur wenige. Stellvertretend für viele seiner Kollegen soll hier Jürgen Falkenberg zitiert werden, der sich erinnert, wie er als junger Mann auf einem Treptower Stellwerk in der Nacht zum 13. August Dienst tat. Gegen 22.00 Uhr hatten sich zwei Stasileute Zutritt zu seinem Arbeitsplatz verschafft. »Und dann ging alles Schlag auf Schlag. Die MfS-Leute wurden mobil. Sie telefonierten kurz, dann gab mir einer den Befehl, die Weiche zum Görlitzer Bahnhof in Richtung Ring zu sichern, mit einem Weichenschloss, den Schlüssel behielt der MfS-Mann. Auf meine Frage, warum das alles sei und dass gegen sechs Uhr der »Gzb´er« (ein planmäßiger Güterzug zum Görlitzer Bahnhof) fahre, bekam ich zur Auskunft, dass dieser Zug ausfiele. Über die eingeschaltete Wechselsprechanlage zum Dispatcher hin hörte ich, wie überall an den Grenzbahnhöfen dringliche Hilfszüge angefordert wurden. Sie führten alle einen 50-Tonnen-Kran mit sich und hatten die Aufgabe, wie sich später herausstellte, die S-Bahn-Gleise in Richtung Westsektoren zu demontieren und Brücken unpassierbar zu machen.«Von nun an waren die Strecken auf dem Ring unterbrochen, die Züge hielten nicht mehr auf den östlichen Bahnhöfen der Nord-Süd-Bahn, es gab keinen Verkehr mehr zwischen Friedrichstraße und Lehrter Bahnhof, Griebnitzsee und Wannsee, Dreilinden und Wannsee, Albrechtshof und Spandau West, Hohen Neuendorf und Frohnau, Stolpe Süd und Heiligensee, Mahlow und Lichtenrade, Teltow und Lichterfelde-Süd sowie zwischen Köllnische Heide und Baumschulenweg. Dennoch waren die Züge am 13. August in Richtung Innenstadt überfüllt. Sie trugen von jetzt an das Richtungsschild Friedrichstraße. Dort hatten Gleisbauarbeiter über Nacht eine Weiche eingebaut, damit die Bahnen wenden und in den Osten zurückfahren konnten. Berlin hatte einen neuen Kopfbahnhof geschenkt bekommen. Die Stimmung der Menschen war an diesem Sonntag eine Mischung aus Schock, Trauer, Gereiztheit und Neugier, wie das Ganze weitergehen sollte. Die Gefühle entsprachen so gar nicht Helmut Baierls rasch entworfenem Mauerlied mit dem Refrain: »Klappe zu, Affe tot, heiter lacht das Morgenrot«. Mit der geteilten S-Bahn war ein Lebensgefühl kaputtgegangen, das sich aus der Besonderheit der geteilten Stadt gespeist hatte, einer Zwittrigkeit, die sich nach Möglichkeit alle Optionen offen gehalten hatte, des Bleibens oder des Weggehens, des realen Spieles mit solchen Gedanken. Mit einer Fahrkarte »Einmal hin und zurück« war das bis dahin immer gegangen, und sei es nur bis zum nächsten Kino am Kurfürstendamm.Die S-Bahn im Westen absolvierte von nun an einen Inselbetrieb. Wer noch mit ihr fahren wollte, wurde von kräftigen Gestalten, die vor den Bahnhöfen standen, daran gehindert. »Keinen Groschen für die Ulbricht-Bahn!« In den südlichen und westlichen Stadtteilen wurden parallel zur S-Bahn fahrende Buslinien installiert. Sie fahren auch zehn Jahre nach dem Mauerfall weiter und haben noch immer reichlich Fahrgäste. »Boykottiert die Ulbricht-Schleuder!« Von dieser verinnerlichten Parole mag mancher auch heute nur ungern lassen.In den siebziger Jahren wurde in Westberlin ein ausgedehntes Netz von U-Bahn-Strecken gebaut. Es diente der ideologischen Selbstfindung der Eingeschlossenen und signalisierte neben schnellem Vorankommen auch eine gewisse Geborgenheit. Die zerspaltene S-Bahn kümmerte im Westen vor sich hin, fuhr auf manchen Nebenstrecken nur noch mit zwei Wagen, die trotzdem leer waren. Der Streik der S-Bahner vom September 1980 brach dem Unternehmen endgültig das Genick. Der Arbeitskampf um höhere Löhne endete mit der Entlassung der Initiatoren und 300 beteiligter Eisenbahner, die trotz Drohungen ihren Dienst nicht mehr aufnehmen wollten. Bis auf drei Strecken wurde anschließend der Betrieb auf 70 Kilometern Länge eingestellt. Die Westberliner Abteilung der S-Bahn war für die Reichsbahn kein Geschäft mehr, 1984 ging sie an den Senat über, der sie der BVG unterstellte.Mit der Tatrabahn in den WeddingIm Osten wurden neue Strecken nach Ahrensfelde und Wartenberg in die Plattensiedlungen gebaut. Die Züge rollten stadtwärts Richtung Alexanderplatz oder Friedrichstraße wie in einen Trichter, der nichts durchließ. Friedrichstraße wurde zum katakombenartigen Labyrinth west-östlicher Absperrung wie streng kontrollierter Durchlässigkeit. Welcher Ostler hat nicht wartend vor Klo und Friseur gestanden, bis sich jene kleine Tür öffnete, aus der der gargekochte Besuch aus dem Westen trat? Heute erinnert zum Glück nichts mehr an diese Zeit.Leider klappte nur die Trennung des Netzes über Nacht. Das endgültige Zusammenfügen der geteilten Verkehrshälften lässt bis heute auf sich warten. Noch immer enden die Züge in Lichterfelde-Süd, wie vor dem Mauerfall. Der Weiterbau scheint kompliziert zu sein. Während der neue Lehrter Bahnhof Geld fressend in beeindruckendem Beton in die Höhe wächst, ist an den Linien, die einmal zu ihm hinführen sollen, wenig zu sehen außer Gras, Gesträuch und Birken. Für die Westberliner Bevölkerung ist wie zu Mauerzeiten Zoo der Hauptbahnhof der Stadt. Lieber klemmt man sich auf überfüllten Bahnsteigen in den Zug als die Abfahrtstation der Fernzüge am Ostbahnhof zu nutzen, der nur ein Viertelstündchen von Kreuzberg entfernt liegt. Identitätsprobleme, die sich aus Erinnerung konstituieren und Neuem, in diesem Falle Altem, misstrauisch gegenüberstehen.Den einschneidenden Zäsuren, wie sie Bus und Straßenbahnen schon vor über 50 Jahren erleben mussten, steht ebenfalls wenig Erneuerungswillen gegenüber. Noch immer schlagen viele Buslinien Kurven, als ob die Mauer stünde, beispielsweise der 129er. Straßenbahnlinien enden wie einst im demokratischen Sektor. Die zum Weddinger Virchow-Klinikum führenden Linien aus Weißensee und Friedrichshain werden behandelt wie eine Transitstrecke. Immer wieder teilen Zeitungen anklagend mit, ein armer Rentner sei in Nichtberücksichtigung der Tatsache, dass es seit 1995 auch wieder im Westen eine Elektrische gibt, überfahren worden. Nach derlei Kundgabe wundert man sich, dass die Ostberliner die Straßenbahn bisher überlebt haben, auch wenn die Tatrabahnen, die jetzt auch den Wedding streifen, schon vor Jahren im Osten den wenig schmeichelhaften Spitznamen »Fleischwolf« trugen.So wächst zusammen, was zusammen gehört, und was Gott zusammenfügt, das soll der Mensch nicht teilen, nicht einmal die S-Bahn. Die fährt inzwischen wieder nach Potsdam, Blankenfelde und Hennigsdorf, und nächstes Jahr soll auch der Vollring endlich geschlossen sei. Die S-Bahn schreibt schwarze Zahlen und scheint damit ein verlässlicher Garant für jene Entwicklung zu sein, die von Berliner Verkehrspolitikern gern in die Phrase gegossen wird, dass der Individualverkehr 20 und der öffentliche Nahverkehr 80 Prozent in der Metropole betragen soll. Dafür haben die elektrischen Züge am 13. August 1961 und in der Zeit nach der Wende ihren Härtetest wohl bestanden.
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