Die Sirenen werden immer lauter. Zunächst hatte man gedacht, Unter den Linden fahren ein paar Polizei- oder Feuerwehrautos entlang. Doch der die meditative Ruhe in dem verdunkelten Raum störende Lärm kommt aus Lautsprechern. Und plötzlich sieht man die Unruhe auch. Auf einem der fünf bewegten Gemälde, die an die Wände projiziert werden, beginnen die Menschen, die eben noch gedankenverloren den Gehsteig entlangspaziert sind, zu rennen. Momente später stürzen andere panikartig aus dem Haus, dem Zentrum des Bildes. Sie stoßen sich zur Seite, jeder ist dem anderen im Weg. Dann bricht die Sintflut los - nicht etwa auf der Straße, wo das Geheul der Sirenen inzwischen seinen hysterischen Höhepunkt erreicht hat, sondern im trauten Heim. E
. Einige Hausbewohner, die nicht schnell genug waren, werden von einem Wasserfall, der die Eingangstreppe herunterschießt, leblos auf die Straße gespült. Als einige Minuten später der ganze Spuk vorbei und die mörderische Quelle versiegt ist, steht das Gebäude wieder in trügerischem Frieden da. Der Gehsteig blitzt wie frisch gewaschen in der Sonne. Die Ausstellungsbesucher, die eben noch versunken vor sich hingestarrt hatten, schauen ratlos durch den Raum. Vielleicht gibt eines der anderen vier bewegten Bilder Aufschluss über dieses Geschehen, das so plötzlich vom Normalen und Alltäglichen ins Surreale und Mythische umgeschlagen ist? Bill Viola hat für die Deutsche Guggenheim Berlin eine verstörende Auftragsarbeit geschaffen. Dabei ist der 1951 in New York geborene Pionier der Medienkunst seinen ihn seit Jahrzehnten fesselnden Themen treu geblieben. Es sind immer die letzten Fragen der Menschheit, die zugleich auch ihre ersten sind, mit denen Viola sich auseinandersetzt: Tod und Geburt, Vergänglichkeit und Ewigkeit, der einzelne Moment und das immer Wiederkehrende. Die Arbeiten des Amerikaners neigen eher dem Mythos und dem Archetyp zu als dem Modernen, mit dem Videokunst sonst zumeist in Verbindung gebracht wird. Nicht die Aufsplitterung der Welt ist das Thema, sondern das, was sie in ihrem Innersten zusammenhält. Und genau das ist es auch, woran sich die Geister scheiden, die über Viola urteilen. Denn wenn bei etwas Offenheit in seinen Arbeiten durchaus Brückenschläge zur Moderne zu finden wären, die mit dem Mythischen immer mehr als nur geflirtet hat, so doch keineswegs zur heutigen Postmoderne. Violas künstlerische Welt ist weder entzaubert, noch mit verspielter Ironie überzogen. In ihr wird nicht gelacht, niemals bescheiden mit den Augen gezwinkert, sondern andächtig dem konventionellen Urzeit-Pathos gelauscht, das aus der modernen Maschine steigt. Für die einen ist das kaum erträgliches "Möchtegern-Wagnertum", für die anderen "direct simplicity", die sich dem "Zynismus der heutigen Zeit" verweigert und die "universellen menschlichen Erfahrungen" ernst zu nehmen versucht. Schon der Titel von Violas aktuellster Arbeit weist auf diese Bemühungen hin. Going Forth by Day bezieht sich auf das beinahe 3.500 Jahre alte Papyrus von Ani, zumeist Das Ägyptische Totenbuch genannt. In der Papyrusrolle, deren Fragment 1888 entdeckt wurde, sind wesentliche philosophische und religiöse Lehren der alten Ägypter versammelt - in Gestalt einer mythischen Legende, welche eine Geschichte von Tod und Wiedergeburt am Nil erzählt. Wenn der Besucher in den Ausstellungsraum eintritt, geht er durch das erste an die Wand geworfene Bild hindurch; sich umdrehend sieht er, dass hier eine Kamera-Taucherfahrt durch orangefarbenes Wasser projiziert wird. Da man den Raum nur an dieser Stelle betreten und wieder verlassen kann, muss dieses Bild als Beginn und Ende des Zyklus verstanden werden. Auf der linken Seite des Raums befindet sich die langgezogene Projektion eines Waldwegs, den die unterschiedlichsten Menschen langsam entlanglaufen. Am Kopf des kleinen Saals "hängt" das Bild mit dem Gehsteig und dem Haus. Auf der rechten Seite sind zwei bewegte Gemälde zu sehen. Auf dem einen breitet sich eine surreale Situation aus: In einem Ein-Raum-Haus ohne Vorderwand liegt ein alter Mensch im Bett, während im überdimensional großen Hintergrund eine weite Seelandschaft zu sehen sind. Auf dem anderen, letzten Bild hantieren einige Männer an einem kleinen Strand, der mitten in einer Steinwüste gelegen scheint, an verschiedenem Gerät herum. Wie magisch zieht es den Betrachter in die Mitte dieser großen Dunkelkammer, zu den anderen Leuten, die man zunächst nur schematisch sehen kann. Einige sind orientierungslos wie man selbst. Sie drehen und wenden den Kopf und stellen irgendwann fest, dass es unmöglich ist, das Geschehen auf allen fünf Bildern gleichzeitig zu verfolgen. Andere haben sich an diese Situation bereits gewöhnt und stehen, sitzen oder liegen vor einem einzigen dieser Kamera-Gemälde. Nicht nur, weil einige Besucher sogar in den Yogi-Sitz versunken sind, hat der dunkle Ausstellungsraum etwas Sakrales. Auch die leisen Geräusche, die aus jedem der Bilder zu kommen scheinen und einander durchmischen, betören durch ihre leise, aber bedeutungsschwangere Schlichtheit. Das Wasser gurgelt und plätschert so suggestiv vor sich hin, als wäre es die Ursuppe. Schritt auf Schritt auf Schritt säumt kaum hörbar den Boden des Waldes etwas wie hundert oder tausend Lebenswege, die schneller vergessen sind, als ein Blatt vom Baum fällt. Die Geräte, an denen ohne Unterlass herumhantiert wird, weiten sich zur klanglichen Vogelperspektive auf das rastlose, sinnlose Ameisen-Arbeiten auf dem Planeten Erde aus. Plötzlich ist es dunkel, ganz dunkel, alle Bilder sind erloschen. Absolute Ruhe. Und nach einer Minute beginnt alles von vorne. Aus den knappen Worten, die an der Wand des Vorraums stehen, hat der Betrachter entnommen, dass jede Filmprojektion fünfunddreißig Minuten dauert. Und er muss sich nun entscheiden, ob er jedes Bild für sich auf sich wirken lassen will, oder alle zusammen. Die meisten entscheiden sich für letzteres, wobei die Augen von dem einen zum nächsten wandern. Zunächst scheint man mit dieser Form der Wahrnehmung auch nichts zu "verpassen", denn das Geschehen kristallisiert sich - wenn überhaupt - nur sehr langsam heraus. Das orange Unterwasser-Bad zeigt zuerst nur Lichtveränderungen und Luftblasen. Irgendwann taucht plötzlich ein weißes Etwas auf, um wieder zu verschwinden. Dann ist da plötzlich eine Hand im Bild und man weiß, das in diesem Ursprungs- und Todesgewässer ein Mensch liegt. Der Waldweg, der ohne Unterlass durchschritten wird, verändert sich überhaupt nicht. Auch die Ein- und Auspackerei der Geräte am Strand des Wüstensees scheint nirgendwo hinzuführen. Am ehesten erzählt noch das surreale Bild eine Geschichte: Ein alter Mann stirbt, während ein Schiff beladen wird. Da ertönen plötzlich die unheilbringenden Sirenen. Und als die mythische Sintflut aus dem bürgerlichen Haus herausschlägt, häuft sich Bedeutung auf Bedeutung. Das Wasser, das vier der fünf Bilder beherrscht, wird zum Nil und zum Jordan. Die einzelnen Bilder scheinen plötzlich miteinander zu sprechen. Als die Sintflut auf dem einen nur mehr leise tröpfelt, besteigt auf dem anderen die Seele des gestorbenen Alten das fertig beladene Schiff, um über das große Wasser überzusetzen. In diesem Moment steigt aus dem Wasser des Bildes rechts daneben, auf dem pausenlos hantiert wird, eine wie ein Engel strahlende Jünglingsgestalt gen Himmel. Danach versinken die fünf Projektionen wieder in ihren rein meditativen Charakter und warten, bis man den Raum durch das Wasser hindurch wieder verlässt. Oder sie noch einmal von vorne beginnen lässt. Noch bis zum 5. Mai in der Deutsche Guggenheim Berlin, Unter den Linden 13-15.
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