Es braucht eine gewisse Verfremdung, um die eingeschliffenen Bahnen der Wahrnehmung zu "deautomatisieren", um Dinge neu sehen zu können, manchmal, um sie überhaupt erst wieder sichtbar zu machen. Der Kunst gesteht man das gerne als Verfahren zu, es sei denn, sie befasst sich mit historischen Themen, oder schlimmer noch: mit Zeitgeschichte. Dann wirkt jede "Verfremdung" auf einmal befremdlich und muss sich daran messen lassen, wie sie sich mit der "historischen Wahrheit" verträgt - von der wir dann alle annehmen, dass es sie gibt, besonders, wenn wir sie selbst noch erlebt haben. Abweichungen werden schnell als Fälschung gebrandmarkt.
Als sich nach der Filmpremiere von Baader im Februar auf der Berlinale der Regisseur Christopher Roth der Presse stellte, wurde er als erst
wurde er als erstes mit dem Vorwurf konfrontiert: "Wie können Sie es wagen, Ihren Film mit einer historischen Lüge enden zu lassen?" In Roths Film nämlich stirbt Baader einen Desperado-Tod im Kugelhagel der Polizei; manche dachten bei der Szene an das Ende von Bonny und Clyde, andere mehr an Butch Cassidy and the Sundance Kid. Im Grunde war also für jeden was dabei - nur eben nicht für die, die die "eine Wahrheit" sehen wollten. Wobei verschärfend hinzu kommt, dass die im Falle von Baaders Tod ja bis heute umstritten ist. Man kennt die Details - die Schmauchspuren, der Nackenschuss -, aber nicht das ganze Bild. Mit seinem "fiktionalen Ende" hat Roth sich möglichst weit weg begeben von den ominösen Todesumständen - und weist, vielleicht unfreiwillig, im Negativverfahren erst recht darauf hin. Herangeholt an die Geschehnisse des 18. Oktober 1977, die im Film wie gesagt keine Rolle spielen, wird Baader nun paradoxerweise vom Startdatum: Ausgerechnet zum 25. Jahrestag wird der Film der Öffentlichkeit präsentiert. Der Vergleich mit jener Art der Geschichtsaufarbeitung, wie sie das Fernsehen zum 20. Jahrestag des "deutschen Herbstes" mit Heinrich Breloers Todesspiel gezeigt hat, liegt nahe - und führt weit weg. Wo Breloer eine Menge beteiligter Zeitzeugen zu Wort kommen ließ und mit ergänzenden Spielfilmszenen verschiedene Facetten zusammentrug, ganz im Glauben, sich damit der "einen" Wahrheit anzunähern, hat Roth diesen Glauben völlig aufgegeben: Er entwirft ein fiktionales Bild, das sich nicht vom Spezialistenwissen, sondern ganz vom Halbwissen des miterlebenden und doch unbeteiligten Zeitzeugen nährt; frei erfunden und vielleicht deshalb dem Zeitgeist manchmal näher.Damit antwortet sein Film auf ein weit verbreitetes, aber uneingestandenes Bedürfnis: Denn in der Halbwelt des persönlichen Erlebens ("ich war 14, als ..."), dem kollektiven Gedächtnis der verschiedenen Nachkriegsgenerationen führt die RAF ein etwas gespensterhaftes Eigenleben, das von der Aufarbeitung der Fakten weitgehend unberührt bleibt. Die zahlreichen Ausstellungen, Theaterstücke und Filme zum Thema belegen eine Faszination, die nicht vergehen will, weil sie so richtig niemand erklären kann. Und die im übrigen, auch wenn aktuell vom Modethema "RAF" gesprochen wird, seit den siebziger Jahren ungebrochen fortexistiert. Man schaue sich Schlöndorffs Katharina Blum oder von Trottas Bleierne Zeit an und man spürt jenseits der moralischen Rechtschaffenheit, des sorgfältigen Infragestellens der Gewalt, diese gewisse Ehrfurcht denen gegenüber, die sich entschlossen hatten, mit Waffen zu kämpfen. So unterschiedlich Breloer, Trotta oder Fassbinder (Die Dritte Generation) ihr Thema auch abgehandelt haben, ob als Zeitzeugenbefragung, als Einfühlung oder als Farce, stets scheint sich schon damals wie ein ungeladener Gast die Verklärung mit eingeschlichen zu haben. Und während in der Welt draußen Terroristen heutzutage ganz und gar nicht mehr als attraktiv gelten, ist in Deutschland ein sehr eigener Erzähl-Code entstanden, der auch ohne Tatsachen-Referenzen funktioniert, wie das Christian Petzold in Die innere Sicherheit gezeigt hat. Dass es sich bei der Kleinfamilie auf der Flucht in seinem Film um ehemalige RAF-Terroristen handelt, muss im Ausland erst erklärt werden - in Russland hat man sie zum Beispiel versehentlich für ehemalige Stasimitarbeiter gehalten.Roths Film kündigt seinen Helden zwar deutlich im Titel an; wer deshalb eine Biografie vermutet, wird enttäuscht; es handelt sich bei Baader eher um eine Art Überblendung einer persönlichen Wahrnehmung des Phänomens "Baader" durch einen Jugendlichen von damals mit dem, was man in der Zwischenzeit über die Figur Baader so alles erfahren hat: etwa dass er Micky-Maus-Hefte las, kein höflicher Mensch war und sich die Frauen gerne von ihm schlecht behandeln ließen. Deshalb spielen Äußerlichkeiten im Film eine Hauptrolle: Man könnte meinen, coole Sonnenbrillen, Lederjacken und Samthosen wären das Markenzeichen der RAF gewesen. Roth betont die Pop-Attitüden-Seite seiner Helden bis an die Grenze des Glaubhaften, wobei er keine aufwändige Rekonstruktion der frühen Siebziger-Jahre-Mode betreibt, sondern auch da flirrend ungenau bleibt wie das dunkle Erinnern selbst, das durch zahlreiche Revivals Original von Adaption nicht mehr unterscheiden kann.Die RAF als Stilfrage zu verhandeln, ist dabei weniger unpolitisch als auf den ersten Blick vermutet, wird dadurch doch jenen Fragen der Weg geebnet, die in der aufgeladenen Polit-Diskussion nie ihren Platz fanden. Zum Beispiel ob es sich mit der Sympathie für die Terroristen gar nicht so ganz anders verhielt wie mit den Sympathien im Popbereich: Man entschied mit dem Bauch, wie man damals sagte, und diese sinnlichen Entscheidungen trennten weniger Gut von Böse, als vielmehr Intensität von Langeweile, Erfahrungshunger von Erziehungsvorgaben. Womit auch der seltsame Effekt zu erklären wäre, dass in Roths Film Baader, von Frank Giering gespielt, zwar als schmieriger, autoritärer Unsympath auftritt, ihn aber doch eine unverkennbare Outlaw-Aura umweht: ein intensiver Charakter.Als solcher erscheint im übrigen auch sein Gegenspieler, BKA-Chef Herold, der im Film Kurt Krone heißt und von Vadim Glowna mit seiner notorisch hauchigen Stimme gespielt wird. Wiederum frei erfunden, bringt Roth Baader und Krone zu einer nächtlichen Begegnung im Wald zusammen. Gehalten in der düsteren Stimmungslage französischer Krimis, gestehen die beiden Antihelden einander ein, sich gegenseitig zu brauchen. Eine Szene, die die gängige Erzählung über den BKA-Chef und seinen Verfolgten, die sich mittlerweile schon fast zu wahrer Geschichte verhärtet hat, noch einmal fiktionalisiert. Allerdings klingt ihre Aussprache nicht annähernd so cool wie in den anzitierten filmischen Vorbildern. Und solche Enttäuschungen bereitet der Film viele. Nie weiß man genau, ob man über diese immer wieder misslingende Verklärung froh sein oder sich ärgern soll. Es ist das Unbestimmte und Unbeholfene im Film, das ungeheuer verfremdend wirkt.
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