Überlegungen aus dem gemeinsamen Glashaus

BILDUNGSPOLITIK Liebe Politiker, ...

Liebe Politiker,

die Schule hat mit dem Streik am vergangenen Mittwoch in Berlin gesprochen, Eure Antwort steht aus. Denn Ihr wollt doch nicht im Ernst die Hetze der vergangenen Tage als Antwort verstanden wissen. Eure Linie war, verbales Verständnis für unser Anliegen zu bekunden und zugleich die Keule zu schwingen: der Streik als "aberwitzige Veranstaltung" (Regierender Bürgermeister Diepgen, CDU), ein Beamtenstreik sei rechtswidrig, Gehaltsabzug. Von den Schülern verlangen wir für "ausreichend" mehr, nämlich die mehrseitige Betrachtung einer Sache: Der Beamte in seinem besonderen Treueverhältnis zum Staat, zugleich ein Bürger mit demokratischen Rechten, zum Beispiel denen der Meinungsfreiheit und des Widerstands. Beide Rechtspositionen stehen in Spannung zueinander - wie ist zu entscheiden? Nicht einmal das habt Ihr gebracht. Die Rechtsbelehrung hätte noch weiter gehen können. Jeder Staatsdiener ist dazu aufgerufen, seinen Dienstherrn in geeigneter Form darauf aufmerksam zu machen, wenn Fehler in seinem Dienstbereich geschehen, und ihn zu beraten, wie sie zu vermeiden wären. Das gälte natürlich umso mehr, wenn eine ganze Institution dem Zerfall ausgesetzt wäre und die Ohren der verantwortlichen Obrigkeit seit Jahren chronisch verstopft wären.

Ich weiß, es gab noch andere Argumente. Man könne nicht Stundenausfall durch Stundenausfall bekämpfen. Logisch, so logisch eben wie: "Man kann nicht Arbeitslosigkeit durch Arbeitsniederlegung bekämpfen." Ein Streik wäre demnach grundsätzlich widersinnig - vordemokratisches Gedankengut. Oder, die Verlängerung der Lehrerarbeitszeit um eine Stunde sei eine "zumutbare Notwendigkeit im Rahmen fiskalischer Zwänge Berlins" (Schulsenator Böger, SPD). Entweder etwas ist notwendig oder es ist zumutbar, Randkorrektur: unlogisch, verräterisch! Als wenn nicht jeder wüsste, dass selbst der Verteilung knapper Mittel immer eine Entscheidung über Prioritäten und somit Alternativen zugrunde liegen und nicht einfach "Zwänge". Warum müssen wir diesen Sprachmüll schlucken? Wurden wir, wurden die Schulen je gefragt, wo sinnvoll gespart werden kann?

Gut, Ihr habt Euch dafür entschieden, populistisch auf der Welle der allgemeinen Beamten- und Lehrerfeindlichkeit zu reiten. Das funktioniert ja auch, zumindest in den Medien, die, wie wir wissen, für jeden Dreck zu haben sind. Was die Schule angeht, da habt Ihr Euch, was Eure Einschüchterungsmacht anbetrifft, verschätzt. Das sollte zu denken geben. Mal ehrlich, habt Ihr den Mund nicht ein bisschen voll genommen? Wir haben unsererseits gerade ein paar Wochen lang im gesellschaftskundlichen Unterricht Eure Miseren begleitet und an der einen oder anderen Stelle versucht, für Euch die Kastanien aus dem Feuer zu holen - ist das der Dank? Wisst Ihr was? Ich wünsche Euch Direktoren, die, nach der Liste der streikenden Lehrer gefragt, antworten: Tut uns leid, aber wir gaben den Kollegen unser Ehrenwort ...

Soweit: sorgfältiges Abwischen des Schaums vom Mund. Nun können wir zur Sache kommen. Politiker und Lehrer - habt Ihr einmal darüber nachgedacht, wie ähnlich wir uns sind? Unsere niedrige Position auf der Beliebtheitsskala der Bevölkerung. Woran das wohl liegen mag? Die Leute denken: eine Stunde mehr oder weniger, die Pauker arbeiten sowieso nur die halbe Zeit. Man weiß einfach nicht so richtig, womit die ihre übrige Zeit verbringen. Nun schaut Euch mal selbst an, liebe Politiker. Sitzungen, Arbeitsessen, leere Parlamente, Urlaubsreisen als Arbeit getarnt - fällt Euch da nichts auf? Dieselbe ekelhafte, ignorante Häme trifft Euch, wie sie uns Lehrer trifft. Vox populi, vox Rindvieh (Franz Josef Strauß) - schon wahr, aber was hilft das? Wir beide, Lehrer wie Politiker leiden unter der mangelnden Nachweislichkeit unseres Tuns. Wir könnten sogar, würden wir je, was wir nicht tun werden, an einem Tisch sitzen, zu der Schlussfolgerung gelangen, dass die verdächtige Unsichtbarkeit unserer Arbeit mit einer Verwandtschaft im Stoff zu tun hat, den wir bearbeiten. Das Gemeinwesen - was für ein abstraktes und gemeines Ding; die Menschenbildung - eine ähnlich schwer fassbare und ebenso wenig in Mark und Pfennig, Stunde und Minute ausweisbare Materie. Also, überlegt noch einmal, ob wir nicht im selben Glashaus sitzen, bevor Ihr mit Steinen schmeißt.

Eines unterscheidet uns allerdings, das müsst Ihr Euch sagen lassen, fundamental: wir wissen, wovon wir reden. Was ist die wahre Lage der Schule? Ihr habt auch hier das billigere Schlagwort vorgezogen: Unterrichtsausfall. Eine wichtige Sache, aber die Unterrichtsversorgungsmentalität erzeugt kein realistisches Bild der Schule. Es macht sich draußen niemand eine Vorstellung davon, wieweit die Schule durch langjährige Einsparungen schon versaut ist: Einsparungen bei der Reinigung bis an die Grenze des hygienisch Zumutbaren sowie Versäumnisse bei der Instandsetzung machen Kindern Angst, nicht mehr aufs Klo gehen zu können. Alte Bücher, in denen es die Sowjetunion noch gibt und die Mauer. Da werden Stellen für Medienwarte an Ganztagsschulen gestrichen, egal ob teure Maschinenparks verkommen. Nun stehen Erzieher- und Sozialpädagogenstellen auf der Streichliste, auf Erziehung kommt's ja nicht so an. Streichung von Ermäßigungsstunden an allen Ecken und Enden, zum Beispiel bei den Klassenleitern (Stichwort: Erziehung). Gleichzeitig schleichende, inzwischen deutlich spürbare Erhöhung der Klassenfrequenzen bei schwierigeren Schülern und älter werdenden Lehrern. Rückgang des Fortbildungsmuts der Lehrer unter dem wachsenden Druck des täglich zu bewältigenden Minimalprogramms bei schwindenden materiellen und psychischen Ressourcen. Wachsender Anteil von bürokratischen gegenüber pädagogischen Aufgaben der Schule durch die Umverteilung der Verwaltungsaufgaben von oben nach unten. Eine sich immer weiter öffnende Schere zwischen Reformnotwendigkeit plus Reformgerede in der Öffentlichkeit einerseits und Krebsgang vor Ort andererseits.

Die Wahrheit ist also, was die Öffentlichkeit nicht sieht, was Ihr aber wohl wissen könnt: dass Ihr die Karre längst gegen die Wand gefahren habt. Ich weiß, Ihr werdet Euch jetzt damit herausreden, dass Ihr die Reform der Schule bereits begonnen habt. Nun gut, was tut Ihr denn? Die Hauptideen, an denen Ihr arbeitet, sind:

1. der Computer als zentrales Lernmittel;

2. Rückkehr zum Hauptfächerkanon zu Lasten der Wahlfreiheit der Schüler;

3. Ökonomisierung der Schule, darunter beispielsweise: Abitur in 12 Jahren, Selbstverwaltung des Mangels in den Schulen bei stärkerer Qualitätskontrolle von oben.

Hat noch niemand bemerkt, dass diese Zielrichtungen untereinander im Widerstreit liegen? Es hat sich inzwischen herumgesprochen, dass der Text als zentraler Unterrichtsgegenstand verloren zu gehen droht. Ein wachsender Teil der Schüler kann nicht mehr lesen und kann auch nicht mehr schreiben. Daher sollen der deutsche Aufsatz und die Fremdsprachenklausur wieder Pflicht sein im Abitur in Baden-Württemberg und Bayern.

Das betrifft den Text. Der Computer, der in jedem Unterrichtsraum stehen und den Anschluss ans weltweite Netz herstellen soll, enthält aber den Hypertext, der im strengen Sinn gar kein Text mehr ist. Die Zeichenlogik des Computers ist, wie Euch Fachleute leicht hätten erklären können, eine ganz andere, zum diskursiven Text entgegengesetzte, zu welchem Ihr die Schüler angeblich zurückführen wollt. Ja, ist es nicht vielmehr so, dass die Schule unter anderem deswegen ums Lesen und Schreiben kämpft, eben weil sie zunehmend mit Kindern - und mit Eltern - zu tun hat, die in der Welt der digitalen Videomedien aufgewachsen sind und bereits mit einer den literarischen Texten diametral entgegengesetzten Logik des Umgangs mit Zeichen in die Schule kommen? Ihr wollt also den Teufel mit Beelzebub austreiben.

Der Computer als Teufelszeug - oh nein, in die Ecke stellt Ihr mich nicht. Keine larmoyante Kulturkritik, auf der man herumhacken kann. Nein, ich gehe selbst täglich mit Computern in der Schule um. Ich verlange von Euch lediglich, dass Ihr wisst, was jeder weiß und dass Ihr Euer Handeln danach ausrichtet: der Computer bringt ins Denken und Handeln jedenfalls eine völlig andere Logik hinein als Goethes "Faust". Ihr befehlt aber, die Schüler sollten ihr Abitur nach wie vor mit Goethes "Faust" machen und nicht mit dem Computer, der aus der Gutenberg-Galaxis unweigerlich herausführt. Dann seid eben auch so konsequent, dass Ihr die Welt der "fröhlichen Wissenschaft" eines unendlich und spielerisch sich ausbreitenden Zeichenuniversums ins Zentrum der Schule stellt und die Schüler nach den neuen Maßstäben prüft, die sowieso längst ihr Leben bestimmen. Stattdessen lasst Ihr die Schere zwischen der humanistischen und der posthumanistischen Welt immer weiter aufklaffen - und wir sollen die auseinander driftenden Kontinente wieder zusammenbringen.

Ich weiß, nach der Logik der Euch beherrschenden Politik wollt Ihr mal wieder eine Versöhnung von Goethe und Internet - Goethe im Internet, das ist so diese Art verblasener, vor Mikrophonen und Fernsehkameras schicker Parolen, hinter denen zwar nichts steckt, die sich aber ebenso rasch verkaufen lassen wie Computer. Vielleicht könnte ja eine Idee entwickelt werden, wonach die Eigenlogik der neuen Medien und die alte Logik von Lesen und Schreiben zusammengebracht werden, so dass sie in der Schule eine Art dialektischen Wettstreits aufführen und sich vor aller Augen gegenseitig teils bekämpfen, teils anfeuern. Aber wo ist denn die Dialektik für Goethe im Internet, wo sind die neuen Prüfungsordnungen? Ihr habt ja nicht einmal das Problem formuliert, geschweige denn dass an der Lösung gearbeitet werden würde.

Soweit zu Euren Zielen 1. und 2. Lassen wir doch einmal ein bisschen Wirklichkeit herein in die Bildungsdebatten. Welches sind die wirklichen Probleme der Schule? Die Ordnung der Schule passt mit der Ordnung der Gesellschaft immer weniger zusammen und die Schulbildung hat mit den Lernanforderungen im Leben immer weniger zu tun. Alte Probleme der Schule in neuer Gestalt. Sie sind in erster Linie außerhalb der Schule entstanden. Durch Eure Entscheidungen - ja, da könnt Ihr Euch nicht herausreden: 20 Jahre Massenarbeitslosigkeit, Ellbogengesellschaft, Individualisierung und Privatisierung - passt die Ordnung, welche die Schule dem Menschen abverlangt, nicht mehr zu diesen. Wachsende Anzahl nicht oder schwer beschulbarer Kinder, das ist die Abbildung desselben Problems im Schulbeamtendeutsch. Da Ihr auf Euerm Kurs, der inzwischen in dem feineren Wort "Globalisierung" untergebracht wurde, besteht, wird es dabei bleiben, dass Ihr die Schule von Zeit zu Zeit mit einer zu Eurer Politik kontrafaktischen Wertedebatte überzieht und ansonsten das Lehrerattentat neben das Politikerattentat tritt - schon wieder ein Anzeichen unverhoffter Nähe!

Eigentlich - das Wort wäre anzustreichen - müsste demnach Pädagogik im Zentrum der Reformdebatten stehen, danach sucht man aber unter 1. bis 3. vergebens, siehe oben. Weiterhin müsste der Bildungsbegriff neu definiert und müssten entsprechende organisatorische, didaktische und methodische Konsequenzen gezogen werden. Denn man kann nicht Generationen im Gedanken an den Eigennutz und an die berufliche Karriere heranziehen und dann von ihnen verlangen, dass sie einen den Nutzen und das Geld weit überschießenden Bildungsanspruch unterstützen. Ihr kennt das Beispiel: ein Schüler klagt gegen das Land Berlin, er brauche keine Chemie, werde aber in der 11. Klasse zum Chemieunterricht gezwungen. Das Gericht entschied in Euerm - und in meinem - Sinne, löste das Problem aber nicht. Zudem widerspricht der Anspruch der Schule, mit den hoheitlich verliehenen Bildungsabschlüssen etwas Fertiges und Unwiderrufliches abzuliefern, dem Prinzip des lebenslangen Lernens, das jedoch von der Berufswirklichkeit diktiert wird. Auch hier wäre ein Widerspruch zu bearbeiten.

Was tut Ihr stattdessen? Eure Reformprojekte sind überwiegend Spar- und Kontrollprojekte. Sie gehen an den zentralen Problemen der Schule vorbei. Einige von Euch werden das als Retourkutsche verstehen: der will nur nicht die Karten offen legen, externe Evaluation und so weiter. Oh, Ihr könnt gern in die Schule kommen und Lernerfolge messen. Ich habe aber gelernt, dass Messen ein Maß, dass das Maß einen Maßstab voraussetzt. Ihr seid gegenwärtig dabei, Maß zu nehmen, ohne vorher geklärt zu haben, was gemessen werden soll.

Dixi et salvavi animam meam.

Na dann, bis zum nächsten Streik, wie es aussieht - oder?

Euer alleruntertänigster

Wieland Elfferding

Der Autor ist Lehrer an einer Berliner Schule.

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