Überrumpelt

EUROPAS ZUKUNFT Schröder redet, Paris bleibt sprachlos

Die Europäer waren gewarnt: Gerhard Schröder hat ein Elefantengedächtnis. "Das hier hat alles nichts mit der Organisation Europas zu tun. Ich werde mich noch lange daran erinnern", blaffte der Kanzler in der langen Nacht von Nizza vergangenen Dezember in die Runde, als ein chaotischer EU-Gipfel mit Kompromissen und Kapitulationen zu Ende ging. Mit seinem Denkanstoss zur Reform der Europäischen Union - Aufwertung der EU-Kommission zu einer Regierung, Umbau des Ministerrats zu einer Staatenkammer, erweitertes Budgetrecht für das Europaparlament - hat Schröder nun ein halbes Jahr später zurückgeschlagen. Bis zum SPD-Parteitag im November, für den der EU-Vorschlag des Kanzlers als Leitantrag figuriert, wird das Papier nun durch die europäischen Debattiergremien genudelt wie gerade beim Treffen der SPE in Berlin und erfüllt damit schon seinen eigentlichen Zweck: Mit wenig Aufwand und viel Wirkung Berlin als Richtungsgeber und Sinnstifter der Union in Szene zu setzen. Paris aber ist schon wieder sprachlos, Chiracs Idee einer "europäischen Verfassung" verpufft, Jospins lang angekündigte Rede zur Zukunft der EU aufgeschoben.

Ganz ähnlich wie im Mai 2000, als Außenminister Fischer in der Humboldt-Universität laut über die "Finalität" Europas und die Direktwahl des Kommissionspräsidenten nachdachte, fühlen sich Frankreichs Politiker überrumpelt. Jahrzehntelang hat Paris von Jean Monnet über Charles de Gaulle bis Jacques Delors den Takt vorgegeben, nach der die Europäische Gemeinschaft wuchs oder stagnierte. Heute sind die Franzosen am Ende ihrer nationalstaatlichen Logik und wissen es auch. Nicht weil sie den ewigen Streit zwischen Anhängern des "Europas der Vaterländer" und integrationswütigen Bundesstaatlern verloren hätten. Ganz im Gegenteil. Schröder wäre der Letzte, der mit dem solide gebauten Nationalbewusstsein seiner Wähler spielen würde. Eine Mischung von national und europäisch geteilter Souveränität nach dem Vorbild des bundesdeutschen Föderalismus schlägt der SPD-Kanzler vielmehr vor und folgt hier einfach seinem Außenminister. Genau dies lässt die Franzosen und mit ihnen die anderen Verfechter europäischer Kabinettspolitik im EU-Ministerrat - Spanier, Briten, Dänen - ohne wirkliche Alternative zurück.

Bemerkenswerterweise ist es der linke Flügel der französischen Sozialisten, der mit einem Mal aus der Blockadefront in Paris ausschert. "Wie sollte eine Demokratie von 400 Millionen Menschen aussehen, wenn nicht unter einer föderalen Formel organisiert?", fragt sich Henri Emmanuelli, der frühere Parlamentspräsident und Schatzmeister der Partei. Die Linke im Parti Socialiste ist klar in der Minderheit. Doch ein Jahr vor den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen läuft Jospins Linksbündnis zunehmend aus dem Ruder. Der Premier muss Kommunisten, Grüne und auch die relativ populären Protest-Trotzkisten pflegen. Es wäre eine Chance für den Flügel um Emmanuelli, Marie-Noelle Lienemann und Julien Dray, Frankreichs Regierungschef zu einem neuen Europa-Projekt mit sozialem Anstrich zu drängen. Das aber wird, wenn überhaupt, nur die alte EU-Rhetorik von der "Bürgernähe" und "Transparenz" ersetzen, die keinen Wähler schreckt. Denn regiert wird auch in Frankreich in der Mitte - und die will ihren Zentralstaat behalten.

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