Übers Übersetzen von Gedichten

Lyrik Verse schmuggeln, Sprache verjüngen, Akustik erkunden - Aurélie Maurin und Rainer G. Schmidt erzählen, wie sie Gedichte übersetzen

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Hinter dem Namen „VERSchmuggel“ verbirgt sich eine Oase für Dichter und Übersetzer: ein Format, bei dem zwei Lyriker sich gegenseitig übersetzen – ohne die Sprache des anderen zu verstehen. Ausgestattet mit Inter­linear­übersetzungen und der Hilfe eines Übersetzers navigieren sie sich durch die Gedichte des anderen. So entsteht ein Dialog feinstofflicher Art, bei dem das Gegenüber zu einem lebendigen Wörterbuch wird. In gegenseitiger Interpretation übersetzen die Dichter ihre eigene Poetik, setzen sie um.
Durch die Unkenntnis der fremden Sprache wird aus dem Text ein „bal masqué“, ein Maskenball aus Klängen und Assoziationen, auf dessen Parkett sich eine ganz neuartige, bewegliche Form von Korrespondenz entwickelt.
Als schmuggelsüchtig gewordene Übersetzerin betrete ich einen fremden Text wie eine dunkle Echokammer, in der man sich anders bewegen darf als bei Tageslicht. Das VERSschmuggeln hat mich dazu verführt, Übersetzen als konspirativen Vorgang zu begreifen: Man legt eigene Bilder über einen fremden Film, eigene Melodien auf ein fremdes Band, und umgekehrt.
Um die Sinnfrequenzen deutscher Gedichte durch andere, fremde Ohren zu empfangen, suche ich gerne die Komplizenschaft mit Dichtern, die des Deutschen nicht mächtig sind. Voller Verwunderung steht man vor einem Text wie vor einer Ma­trjoschka, die beim Öffnen immer neue, funkelnde Bedeutungen preisgibt. Im Dialog miteinander erhitzt sich der Sinn, auch weil man sich gegenseitig ermutigt, die etablierte Deutung zu verlassen.
Man wird zum Schöpfer von Chimären, so wie man sich als Kind oft verhörte und Wörter mit eigenem Sinn anfüllte. Bei Benjamin wurden aus der „Muhme Rehlen“ die berühmten „Mummerehlen“; meine Kinderohren, etwas trivialer, verwandelten das deutsche „Dankeschön“ in „tantes cochonnes“ („Schweinetanten“). Verse schmuggeln bedeutet immer auch, die entgegengesetzte Möglichkeit in Betracht zu ziehen, und zeigt, wie ein Vers jederzeit in sein Gegenteil umschlagen kann, genauso wie Poesie in Übersetzung und Übersetzung in Poesie. Übersetzen heißt für mich, mir diese innere Schweinetante zu bewahren, ins Innere der Sprache vorzudringen und in den Bereich des nicht sofort Verständlichen, Unvorhersehbaren zu geraten, dorthin, wo der Sinn noch schwebt. Wer übersetzt, bezieht sich auf das neu zu Entdeckende, nicht auf das Altbekannte, und setzt das Bekannte dem Unbekannten aus. Man geht zurück in die Entstehungszeit der Sprache, zurück in seine Kindheit. Übersetzen heißt: verjüngen.


It must give pleasure

Das Gedicht schafft sich seinen eigenen Raum, ob nun in gebundenen Formen oder als kühner Würfelwurf über die ganze Seite hinweg. Sein Verfasser ist erster „Übersetzer“. Er übersetzt Eindrücke und innere Bilder, aber auch das Schweigen und die Unvollkommenheit der Sprache, die sich neben einem Abgrund zu behaupten sucht. Der zweite Übersetzer ist der Leser (des Originals). Der Text löst bei ihm Bilder und Assoziationen aus, die über die Vorgabe hinausgehen und einen „Überschuss“ schaffen können. Der dritte Übersetzer nun versucht, die Entsprechung des Gedichts in einer anderen Sprache zu erreichen, durch alle Vieldeutigkeiten hindurch. Es wäre vermessen, die Konsubstantialität von Original und Übersetzung zu behaupten oder zu fordern. Der Übersetzer erkundet die Räume des Gedichts, braucht aber dazu ein zündendes Element. Er muss das Zucken spürbar machen, das über die Grenze des in Worte Gefassten hinausgeht: die Freude, den Schrecken, das, was das Gedicht belebt und seine Fortschrift in Gang hält. IT MUST GIVE PLEASURE lautet der Zwischentitel eines Gedichts von Wallace Stevens (das IT meint die Dichtung). In EARTHY ANECDOTE, dem ersten Gedicht seines ersten, 1923 erschienenen Gedichtbandes, klappern irgendwelche Böcke durch Oklahoma, und eine ominöse „Feuerkatze“ stellt sich ihnen in den Weg. Sie müssen ihr ausweichen, mal rechts, mal links. Eine schwungvolle, räumlich ausgreifende Bewegung durchzieht das Gedicht, begleitet von deutlichen akustischen Ereignissen: Im Wort „Oklahoma“ klingt das Klappern der Hufe an. Mit seltsamen Friktionen und Wiederholungen wird hier der Zusammenprall der Elemente Erde und Feuer inszeniert und ritualisiert. Am Schluss „schloss die Feuerkatze ihre Lohaugen / Und schlief“. Wäre „bright eyes“ nicht richtiger mit „glänzende Augen“ übersetzt? Dann haben wir aber fünf Silben statt zwei oder drei, und alles gerät ins Stolpern. Zudem werden wir unpassend an die „glänzenden Augen“ der Kinder unterm Weihnachtsbaum erinnert. Während das kurze „Lohaugen“ das feurige Element der Katze aufgreift und zugleich einen Ruhepol bietet. Eine Neu-Findung ist hinzugekommen und trägt das Gedicht weiter. Die Übertragung hat kein Ende. Solange die Freude währt.

Aurélie Maurin, Übersetzerin, lebt in Berlin

Rainer G. Schmidt, Übersetzer, lebt in Berlin

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