„Der Verstand weigert sich zu glauben, was gerade geschieht“

Ukraine Wie es ist, von einem Tag auf den anderen im Krieg aufzuwachen: ein Augenzeugenbericht einer jungen Frau in Kiew
Sie sind in Kiew geblieben um zu kämpfen: zivile Kampftruppen
Sie sind in Kiew geblieben um zu kämpfen: zivile Kampftruppen

Foto: Aris Messinis/AFP via Getty Images

Ich bin stolz, Ukrainerin zu sein.

Heute, am 28. Februar, fühlt es sich an wie die schrecklichste Nacht von allen. Soweit ich mich erinnere, gab es in meinem Land zwei Revolutionen auf dem Maidan – eine erschreckender als die andere –, dann die Einnahme der Krim und des Donbass. Ich weiß noch, wie die Menschen damals verängstigt nach Kiew kamen, bei jeder Bewegung zuckten sie zusammen. Wir halfen ihnen, so gut wir konnten. Das Blut im Fernsehen war entsetzlich. Dann gewöhnten wir uns daran, mit dem Krieg und im Krieg zu leben. Niemand glaubte, dass das, was heute in der Ukraine passiert, im 21. Jahrhundert möglich ist.

Am Morgen des 24. Februar wachten wir durch das Heulen der Sirenen auf. Meine Mutter rief an und sagte, dass in jedem Sender der Angriff Russlands auf die Ukraine zu sehen war. Panzer und schwere Artillerie kamen aus verschiedenen Richtungen auf Kiew, Charkiw, Odessa, Mariupol, Berdjansk, Tschernihiw und Sumy zu. Ich konnte es nicht glauben. Ich dachte, es sei das gleiche wie im Monat zuvor – Einschüchterung und Desinformation. Damals hieß es jeden Tag, dass Schulen, Kindergärten und Vergnügungszentren in Kiew mit Sprengfallen versehen seien. Die Behörden kamen, überprüften alles und sagten, es sei nur ein weiterer Scherz.

Zwischen Wut und Stolz

Dieses Mal ist es kein Scherz. Ein paar Stunden später wird uns klar, dass es dieses Mal ernst ist. Das ist Krieg! Ein umfassender russischer Angriff auf die Ukraine unter dem Deckmantel der „Rettung der Ukraine vor Neonazis“. Am ersten Tag weigert sich der Verstand zu glauben, was geschieht. Die Angst packt den Körper, aber noch stärker ist das Gefühl der Wut auf den Angreifer und der Stolz auf unsere Armee. Ich bin stolz auf unsere Helden! Das Wichtigste, was Putin bei der Planung des Angriffs nicht bedacht hat: Die Ukrainer sind ein sehr freiheitsliebendes Volk. Wir würden lieber sterben als in Gefangenschaft zu leben. Wir sind ein stolzes, mutiges, freundliches und großzügiges Volk.

Braucht man Beweise dafür?

- Am Ende des ersten Tages bildeten sich lange Schlangen vor dem Militärischen Rekrutierungsbüro und vor den Blutspendezentren.

- Am Ende des zweiten Tages heißt es bei den freiwilligen Kampftruppen: Alles ist voll, wir kommen kaum nach, warten Sie auf einen Anruf.

- Wo sonst decken sich gewöhnliche Menschen jeden Alters massenhaft mit Molotowcocktails ein, um die „Befreier“ zu empfangen?

- In der Region Tschernihiw griff ein 18-jähriger Junge zum ersten Mal zu den Waffen. Er traf den ersten Panzer direkt, eine Kolonne von 17 Panzern hinter ihm wurde gestoppt und von Leuten wie ihm, mutig und freiheitsliebend, entwaffnet.

Die Ukrainer wissen, wofür sie kämpfen

Wie viele solcher Geschichten gibt es in den vier Tagen dieses schrecklichen und sinnlosen Krieges?! In dem eroberten Berdjansk marschierten etwa tausend Menschen zu den „Rettern“ und riefen „Berdjansk ist Ukraine“. Diejenigen, die nicht in den Kampf gezogen sind, organisieren Chats unter dem Motto „Hilf deinem Nachbarn“, um Lebensmittel, Wasser, Medikamente, Hilfe bei der Ausreise oder einfach nur Unterstützung zu bekommen.

Besonders stolz bin ich auf unseren Präsidenten. Das ganze Land hat einen Staatschef gesehen, der von der ersten Minute an nicht den Kopf verloren hat, sondern Stärke, Willen, Mut, Selbstbeherrschung und Liebe für sein Land gezeigt hat.

In der ukrainischen Hymne heißt es: „Weder der Ruhm noch der Wille der Ukraine ist gestorben. Wir werden unsere Seele und unseren Körper für unsere Freiheit hingeben“. Wir wissen, wofür wir kämpfen. Und ich denke, ich spreche auch für andere, für die Mehrheit: Wenn es notwendig ist, werden wir alle zu den Waffen greifen. Wir befinden uns in unserem eigenen Land. Wir haben niemanden gebeten, uns zu „befreien“.

Die Ukraine ist von Norden nach Osten und von Süden nach Westen sehr unterschiedlich. Unterschiedliche Mentalitäten und Bräuche, aber das hindert uns nicht daran, alle Ukrainer zu sein. Ein Ukrainer aus Uzhgorod hat den russischsprachigen Ukrainer aus Donezk immer bestens verstanden. Jetzt kämpfen die Militärs aus Lemberg in Charkiw, denn die Ukraine ist in ihrer Entscheidung, ein freier europäischer Staat zu sein, geeinter denn je.

Info

Unsere Autorin lebt in Kiew, wo sie vom Krieg überrascht wurde.

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