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Industriepolitik muss ökonomische Ungleichgewichte reduzieren. Die Verteilung der industriellen Kapazitäten ist auf globaler, europäischer, nationaler und regionaler Ebene von großen Ungleichgewichten geprägt. In Altmaiers Papier spielt das keine Rolle. Progressive Industriepolitik muss sich aber intensiv damit beschäftigen, wie eine gleichmäßigere Entwicklung erreicht werden kann, ohne dabei andere Regionen der Erde abzuhängen. In der EU kann Industriepolitik hier nur einen Beitrag leisten, wenn die die Umsetzung erschwerende EU-Wettbewerbspolitik für die schwächeren Marktteilnehmer zumindest vorübergehend gelockert wird.
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Industriepolitik muss die Re-Regionalisierung der Wirtschaft unterstützen. Die starke Exportorientierun
chaft unterstützen. Die starke Exportorientierung vieler Ökonomien ist problematisch. Einerseits wird dadurch globale Wettbewerbsfähigkeit zum vorrangigen Ziel von Industriepolitik – zulasten anderer Ziele. Andererseits muss der eigenen Exportfähigkeit immer die Importfähigkeit anderer Länder gegenüberstehen. Aufgrund des global sehr ungleich verteilten Reichtums ist dieses Wirtschaftsmodell enorm krisenanfällig. Außerdem sind lange Transportwege umweltschädlich. Eine stärkere Binnenmarktorientierung inklusive Förderung der Binnennachfrage würde ökologische und soziale Ziele verbinden.3Industriepolitik muss die Verteilung der Profite hinterfragen. Es ist ein Problem, wenn industriepolitische Maßnahmen private Unternehmen dabei unterstützen wettbewerbsfähig zu werden, am Ende aber die Gewinne unter den Aktionären und Aktionärinnen verteilt werden. Wird die Entwicklung industrieller Kapazitäten oder innovativer Produkte aus öffentlichen Geldern gefördert, muss die Allgemeinheit etwas dafür zurückbekommen. Eine Möglichkeit wäre es, dass ein festgelegter Prozentsatz des Gewinns direkt in den öffentlichen Haushalt zurückfließt oder dass die Reinvestition eines Teils des Gewinns verpflichtend wird.4Industriepolitik muss die Eigentumsfrage stellen. Industriepolitik interessiert sich dafür, in wessen Hand sich die Produktionskapazitäten befinden, die gestärkt oder aufgebaut werden sollen, und wer über den Einsatz der Produktionskapazitäten einer Gesellschaft entscheiden kann. Das bedeutet, dass industriepolitische Maßnahmen nicht vorrangig zur Förderung privater, aktionärsorientierter Unternehmen konzipiert werden, sondern dass öffentliche oder selbstverwaltete Betriebe, Kooperativen und andere Formen der alternativen Wirtschaftsorganisation aktiv unterstützt werden. Dies ermöglicht es auch, eine größere Kontrolle über die Arbeitsstandards auszuüben.5Industriepolitik muss zur sozial-ökologischen Transformation beitragen. Damit Industriepolitik einen Beitrag zur sozial-ökologischen Transformation leisten kann, muss sie mehr erreichen, als lediglich den Kapitalismus durch „grünes Wachstum“ wieder in Schwung zu bringen. Besonders die umweltschädlichen, „braunen“ Industrien (Automobilindustrie, Braunkohle etc.) und die damit verbundenen Konsumnormen müssen im Zentrum einer Strategie industrieller Konversion stehen, ohne aber die in diesen Bereichen beschäftigten Arbeiterinnen und Arbeiter sich selbst zu überlassen.6Industriepolitik muss feministisch sein. In der EU waren während der letzten 20 Jahre konstant zirka drei Viertel der Beschäftigten im industriellen Sektor männlich. Industriepolitik betrifft also direkt mehr Männer als Frauen. Anstatt aber nur auf eine Erhöhung des Frauenanteils abzuzielen, muss Industriepolitik die Geschlechterungleichheit im Betrieb und zwischen den Branchen bekämpfen. Außerdem muss sie eng mit Politiken in der Reproduktionssphäre abgestimmt werden, zum Beispiel im Sorgebereich (Verfügbarkeit von Betreuungseinrichtungen).7Industriepolitik muss kollektiv erarbeitet und demokratisch legimitiert sein. Industriepolitik muss demokratisch ein. Einerseits zielt sie darauf ab, die Mit- und Selbstbestimmung von Beschäftigten im Unternehmen zu erhöhen. Das Vorhandensein von wirtschaftsdemokratischen Instrumenten könnte zu einem Förderkriterium gemacht werden. Andererseits müsste auch die Frage, was wir wie produzieren wollen, und welche Industriepolitik daraus folgt, auf gesellschaftlicher Ebene zur Debatte stehen. Eine wichtige Rolle muss hierbei den Gewerkschaften zukommen.8Industriepolitik muss die soziale Ungleichheit reduzieren. Industriepolitik darf sich nicht darauf beschränken, die Beschäftigung im industriellen Sektor zu sichern. Sie muss gegen Auslagerungen und Leiharbeit in Industriebetrieben gerichtet sein, aber auch das starke Lohngefälle zwischen der Industrie und anderen Wirtschaftssektoren kritisch reflektieren. Eine starke industrielle Basis sichert die Wertschöpfung und damit die Grundlage für sozialpolitische Umverteilung und ein umfangreiches soziales Netz.9Industriepolitik muss eine aktive Friedenspolitik ergänzen. Ein wichtiger Bestandteil der Industrie ist traditionell die Rüstungsbranche. Während sie seit 2017 mit der Verordnung zur „Einrichtung des Europäischen Programms zur industriellen Entwicklung im Verteidigungsbereich“ (EDIDP) auf europäischer Ebene gefördert wird, muss progressive Industriepolitik die Abrüstung fördern. Dafür sollte die Umstellung von Waffenproduktion auf andere Produkte unterstützt werden.10Wir brauchen eine breite Debatte zu progressiver Industriepolitik! Wollen wir das Wirtschaftssystem grundlegend umkrempeln, müssen wir von einer reaktiven zu einer proaktiven Haltung kommen. Das bedeutet, wir dürfen uns nicht damit zufriedengeben, Vorschläge anderer zu kommentieren, sondern müssen aktiv die Debatte vorantreiben. Nur so ist es möglich, aus einer passiven Rolle in eine gestalterische Position zu kommen.Placeholder authorbio-1