Umwertung

Linksbündig Jenseits der Scheindebatte um ein "Wertefach" verändert sich vielleicht etwas

Ein Volk, das sich "Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen..." eine Verfassung gibt, die so beginnt, muss zu gegebener Zeit von einem einheitlichen Religionsverständnis ausgegangen sein. Zumindest war Religion - und 1949 war das ausschließlich die christliche - von mehr sinnstiftendem Belang als heute. Hinzuweisen wäre noch auf die Unvollständigkeit dieses Volkes, westwärts der Elbe angesiedelt.

41 Jahre später kam ein halbes Volk östlich der Elbe dazu - in einer tiefgehend veränderten gesellschaftlichen Situation, die nicht nur die beiden Halbvölker anging, sondern die gesamte Welt. Ungeachtet dessen wurde das Grundgesetz nicht angerührt, ungeachtet dessen die Präambel "vor Gott" usw. beibehalten. Dies zu verstehen als Gruß und Dank an die Kirche, deren Freiheitsbegriff mehr mit der Freiheit des Kapitalismus als mit der sozialistischen zusammenfiel, ist, wie sich heute zeigt, nicht zu wenig. Es geht immer noch um den staatstragenden Erhalt einer kapitalistischen Ordnung, die den Begriff der Freiheit vor allen anderen an den des Eigentums heftet.

So viel zu grundlegenden Werten, denen in der gegenwärtigen Debatte um die Einführung eines interkulturellen Pflichtfachs statt bekennender Religionsstunde der schwer zu fassende Wertbegriff des Glaubens aufgepfropft wird. Die Verlagerung und damit einhergehende Entwertung kultureller und religiöser Wertebegriffe aus dem bekennenden Religionsunterricht in ein relativierendes "Wertefach" verweist auf grundlegende Mängel im Lehrplan. Wie, zum Beispiel, ist ein Fach Geschichte zu unterrichten ohne Auseinandersetzung mit dem Begriff der Religion?

Ob "Interkulturelle Bildung" oder "Lebenskunde Ethik Religion", wie immer das kommende Schulfach heißen wird, es dient der pädagogischen Offensive gegen den zur Problemreligion gewordenen Islam. Nicht weil er durch Glaubenskämpfe mit dem Papst und Bischof Huber dazu geworden wäre, vielmehr weil er die anscheinend letzte, in den sogenannten letzten Dingen ernstzunehmende Religion geblieben ist. Eine, die in weiten Regionen der Erde staatstragend ist.

Der ewige Versuch ewige Klarheiten zu schaffen, der missionarische Drang, mit dem Berlins Werteunterricht bei Lehrern wie Schülern durchgesetzt werden soll, lässt sich auch als Attacke einer schnellen Eingreiftruppe lesen, die dem gebrochenen Linksbewusstsein von SPD/PDS auf die Sprünge helfen soll. Das vergleichende Lehren fremder Lebensweisen, Kulturen, Religionen soll vermittels Entgrenzung übersichtlich eingrenzen, was so schwer zu durchschauen scheint wie die Strahlung des Islam, die als letzte einen Einzelnen dazu bewegen kann, sein Leben für eine Idee zu geben.

Angesichts des globalen Trauerfests um einen Kirchenmann aus Polen sticht der Mangel an ideologischen Entwürfen, um nicht zu sagen Utopien, ins Auge. Der Eindruck, dass in Berlin auf einen Zug gesprungen wird, der unter Dampf in verheißungsvolle Zukunft fährt, lässt sich schwer vermeiden. Die Interessenkollision zwischen sozialdemokratisch-sozialistischen Parteistrategen in der Hauptstadt und denen im Rest der Republik überspielt den tiefer schwelenden Konflikt um ein Politikverständnis, das sich am sich wankenden Staatsbegriff misst. Der 2. Absatz, Artikel 14, Grundgesetz: "Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen", scheint so beliebig auslegbar wie Absatz 1, Artikel 4: "Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich." Unverletzlich ist eigentlich nichts, verwertbar im kapitalistischen System dagegen alles.

Es lässt sich gut marxistisch formulieren: "Und zwar ist die Religion das Selbstbewusstsein und das Selbstgefühl des Menschen, der sich selbst entweder noch nicht erworben oder schon wieder verloren hat. Aber der Mensch, das ist kein abstraktes, außer der Welt hockendes Wesen. Der Mensch, das ist die Welt des Menschen, Staat, Sozietät." Tatsächlich muss man soweit zurück ins Lesebuch gucken, um zu sehen, worum es geht. Und es geht nicht um weniger. Der bloß wie eine weitere Scheindebatte daherkommende Streit ist nur der äußerste Anschein eines gewaltigen Prozesses, in dem um ein vielleicht vollkommen neues Staatsverständnis, eine neue Staatsform mithin, gerungen wird. Wenn der Bundestagspräsident also die Wiederkehr des Klassenkampfs heraufziehen sieht, könnte das Grund zu neuer Hoffnung sein.


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