Der Widerstand in Tschetschenien ist nicht nur bärtig und gewaltsam. Sowohl die jetzige prorussische tschetschenische Regierung unter dem Premier und Quasi-Alleinherrscher Ramzan Kadyrow wie auch die aus den kaukasischen Bergen operierenden Widerstandskämpfer, pflegen die Nekrophilie, deren Opfer sie früher oder später selbst werden. Der Präsident der tschetschenischen Widerstandskämpfer - der in diesem Juni getötete Abdulchalim Sadulajew - und der im Juli beim Basteln eines Sprengsatzes umgekommene Terrorist Schamil Bassajew illustrieren das bestens. Der gewaltlose Widerstand, dem vor allem Frauen angehören, ist dem Leben zugewandt. In den Medien wird dieses leise Phänomen ausgeblendet.
Im Dezember 1994 ging um die Welt das Fernsehbild von tsche
von tschetschenischen Frauen, die in dicken Wollkopftüchern eine Menschenkette gegen die nach Grosny rollenden Panzer bildeten. Sie vermochten die Kriegsmaschinerie nicht aufzuhalten. Danach kamen bombardierende Flugzeuge und Hubschrauber. Das demokratische Russland tat alles, um Tschetscheniens Unabhängigkeit zu verhindern. Seitdem reproduzieren die Medien das Bild von grimmigen Tschetschenen mit Kalaschnikoffs, die zu jedem Schuss Allahu Akbar rufen.Wo sind jene Frauen geblieben? Aus der spontanen Frauenkette hat sich eine kontinuierliche Frauen- und Friedensbewegung entwickelt. Die einstigen Sowjetmenschen entdeckten für sich die Freiheit des zivilen Widerstandes. Innerhalb eines Jahrzehnts sind in Tschetschenien über 200 NGOs entstanden. Wenn auch nicht alle wirklich unabhängig sind und seriös arbeiten, ist der sich etablierende Menschenrechtsgeist in einem Land mit zerstörter Infrastruktur an sich schon beachtenswert. Die tschetschenischen Menschenrechtler - es handelt sich vor allem um Menschenrechtlerinnen - sammeln Informationen über gravierende Menschenrechtsverletzungen, stehen den Opfern juristisch und psychologisch bei und leisten humanitäre Hilfe. Schon als die ersten Bomben fielen, gründeten sich fast in jedem Dorf Frauenkomitees, kam es zu Friedensmärschen und Friedenskonferenzen, Hungerstreiks wurden durchgeführt, Frauen richteten Appelle an den Kreml, fuhren nach Moskau und stellten sich mit Plakaten vor seine Mauern. Zum Beispiel entstand die pazifistische Frauenbewegung Waffen brechen. Die Frauen drängten sowohl die russischen Soldaten wie auch die Widerstandskämpfer, ihre Kalaschnikoffs zu zerbrechen. Sie griffen damit auf einen tschetschenischen Brauch zurück, wonach die Frau das Recht hat, ein weißes Tuch zwischen die sich raufenden Männer zu werfen, woraufhin diese ihren Kampf beenden müssen. Die Waffen wurden nicht gebrochen, sondern der uralte Brauch, doch etwas geschah im männerdominierten islamischen Nordkaukasus - die Frauen erkannten eine neue Kraft und wurden dafür zunehmend respektiert, auch von den Männern.Zu der Friedensbewegung gesellten sich buddhistische Mönche, angeführt vom japanischen Meister Dzunsej Terasawa. Er wandte sich in einem offenen Brief an Wladimir Putin, er solle alle Täter vor ein internationales Tribunal stellen, sich selbst eingeschlossen. Ein Aktivist der ersten Stunde war der britische Quäker Chris Hunter, - er hat unter anderem in Grosny das Rehabilitationszentrum Sternchen aufgebaut, wo Kinder mit Kriegstraumata behandelt wurden. Seit 1999 stehen beide auf der schwarzen Liste der für russische Behörden unerwünschten Personen. Doch sie arbeiten weiterhin, nun aus dem Ausland.Zu der tschetschenischen Friedensbewegung gehörten die Komitees der russischen Soldatenmütter aus St. Petersburg und Moskau. Die Soldatenmütter, deren Ziel die Reform der russischen Armee ist und das Zurückholen der Söhne vom Krieg nach Hause, erhielten für ihre Verdienste den Alternativen Nobelpreis. Die Tschetscheninnen, welche die mittellosen Mütter wochenlang bei sich beherbergten, die Zivilkleidung für die Soldaten und nicht selten auch das Geld für die Reise besorgten und die Deserteure aus Tschetschenien herausschmuggelten und dabei selbst bedroht waren, blieben in Oslo unerwähnt und erhielten auch kein Geld. Im Westen hat man die Bevormundung und das Mundtotmachen der Tschetscheninnen lange mitgemacht. Zu internationalen Friedenskonferenzen und Vorträgen an westlichen Universitäten wurden russische "Tschetschenienspezialisten" eingeladen. Jene aber, die täglich in Lebensgefahr lebten, die Verwandte, Freunde verloren hatten, die selbst gefoltert worden waren, die selbst gemachte Fotos und Videos über Verbrechen der russischen Armee und über den Einsatz von verbotenen Waffen aus der Kriegszone herausbrachten, bekamen keinen Namen und hatten keine Stimme.Die russische Menschenrechtsorganisation Memorial präsentiert seit Jahren in Straßburg und Genf Menschenrechtsverletzungen, die von ihren tschetschenischen Mitarbeitern und vor allem Mitarbeiterinnen gesammelt wurden - ohne diese zu erwähnen. Durch die verstärkte Emigration der tschetschenischen Elite hat sich die Lage insofern gebessert, als dass es jetzt Tschetschenen gibt, die eine westliche Sprache sprechen und an Konferenzen teilnehmen. Doch immer noch fällt es einigen Organisatoren nicht ein, tschetschenische Menschenrechtler statt Memorial-Leute einzuladen. Memorial gilt mit Recht im Westen als eine zuverlässige Quelle, und trotzdem werden etliche Fakten in der Moskauer Zentrale "angepasst".Menschenrechtler in Russland zu sein, das heißt noch nicht unbedingt, gegen den landesüblichen Kolonialreflex gefeit zu sein. Als die tschetschenische Menschenrechtlerin und Filmerin Zainap Gaschajewa 2002 von der Berner Stiftung für Freiheit und Menschenrechte mit ihrem Preis, den auch der Dalai Lama erhalten hatte, gewürdigt wurde, war dies eine Premiere. Ein öffentliches Zeichen wurde gesetzt wider den politischen Konformismus gegenüber dem offiziellen Russland. Es war ein Sieg der leidenden Zivilbevölkerung, um die sich weder die prorussische Regierung noch die Widerstandskämpfer sorgen. Zainap Gaschajewa war zunächst Vorsitzende der tschetschenischen Sektion der Union nordkaukasischer Frauen, dann gründete sie ihre eigene humanitäre Frauenorganisation, die vor allem den Kriegswaisen in Grosny, in den Dörfern oder in den Zeltlagern und Kuhställen in Inguschetien half - brachte ihnen Öl, Mehl, Bleistifte, Hefte, Beinprothesen. Sie war auch eine der Mitorganisatorinnen der Friedensmärsche. Während die Bäuerinnen das Verschwinden ihrer Söhne und das Niederbrennen ihrer Häuser beklagten, bewegte sie sich im Trümmerfeld, filmte, fotografierte, nahm Zeugenaussagen auf und versorgte damit die ausländischen Medienleute und Menschenrechtler. Wurde ein Dorf angegriffen, war sie dort, die Kamera unter dem Rock versteckt. Jeder Schritt hätte der letzte sein können. Zainap Gaschajewa dachte nicht an sich selbst, sie sah ihre Heimat entschwinden. Bis heute ist sie dabei, dem ständigen Abhandenkommen etwas entgegenzusetzen. Ihr Video- und Fotomaterial wird bei der Schweizer Sektion der Gesellschaft für bedrohte Völker in Bern für ein mögliches internationales Kriegstribunal vorbereitet, um eines Tages die Verbrechen an der Zivilbevölkerung zu dokumentieren.Der Dokumentarfilm des Schweizer Filmers Erik Bergkraut COCA - die Taube aus Tschetschenien entwirft ein vielschichtiges Bild von Zainap Gaschajewa als Aktivistin, Ehefrau und Mutter. Über das Medium Film kann man emotional eine große Öffentlichkeit erreichen. Der Film verhalf dazu, dass Zainap Gaschajewa im vergangenen Jahr mit dem Kopelew Menschenrechtspreis ausgezeichnet worden ist. Bei solcher Gelegenheit kommt das stiefmütterlich behandelte Thema Tschetschenien positiv zur Sprache. Dessen sind sich die Tschetscheninnen bewusst, doch sie wissen auch, welch jahrelange Arbeit notwendig ist, bis jemand als preiswürdig entdeckt wird. Und gäbe es nicht ein ganzes Netz von "Tschetschenienaktivisten" im Westen dahinter - wiederum meist Frauen - würden sie unbemerkt bleiben. Durch das neue restriktive Gesetz über die Arbeit der NGOs in Russland ist allerdings diese Mitarbeit gefährdet. Die eingeführte Staatskontrolle zeigt, dass die Regierenden die Wichtigkeit der Menschenrechtsarbeit erkannt haben und sie fürchten.In diesem Frühling hat Zainap Gaschajewa ein eigenes Waisenhaus in Grosny gegründet. Ihre humanitäre Arbeit nennt sie Echo des Krieges. Zainap führte mehrmals die Waisenkinder aus dem Krieg für eine Woche durch Moskau, wo diese über unbeschädigte Häuser staunten und bei russischen Familien wohnten. Zainap nannte diese Ausflüge Kapitalanlegen für die Zukunft, sie hielt an dem Glauben an eine Zukunft für das tschetschenische Volk fest, und diese sollte frei von Hass sein.Sie war lange gegen die Emigration, die das endgültige Ende ihres kaum eine Million zählenden Volkes besiegeln könnte, aber sie sieht ein, dass zu bleiben für viele lebensgefährlich geworden ist. Die tschetschenische Elite ist schon emigriert, vor allem die Jugend ist auf der Flucht. Um den Heimatverlust aufzuhalten, will Zainap nun Das tschetschenische Haus des Friedens aufbauen - irgendwo in einem westlichen Land. Darin sollen die tschetschenische Geschichte, Menschenrechtsverletzungen wie auch traditionelles Volksgut archiviert werden. Es soll ein Haus der Begegnung werden, für die Tschetschenen im Exil wie auch für alle, denen das Schicksal dieses europäischen Volkes nicht gleichgültig ist. Solange der Krieg dauert, löst er ein Echo aus. Es kommt auch auf uns an, wie geartet dieses Echo sein wird.In den ersten Kriegsjahren glaubten die tschetschenischen Menschenrechtlerinnen allen Ernstes daran, mit Auftritten und mit Aufklärung die Gräuel beenden zu können. Heute wissen sie, dass Kriege einer anderen Logik gehorchen - und nicht der, das Leiden möglichst schnell zu beenden - doch sie lassen sich dadurch in ihrer Arbeit nicht beirren. Sie handeln nach dem Motto, das Vaclav Havel, als er noch im Gefängnis saß, etwa so ausdrückte: "Wir sind keine Optimisten, wir erwarten keinen Erfolg unseres Tuns, wir handeln bloß nach unserem Gewissen."Die Autorin war Kriegsberichterstatterin in Tschetschenien und schreibt seit 1996 über tschetschenische Frauen. Ihr Sammelband Die Sammlerin der Seelen, 2003 Aufbau-Verlag, beinhaltet Texte zu Tschetschenien.
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