Drei Uhr früh. Überall Geräusche. Schläft die Stadt nicht? Der junge Mann schluckt die Angst runter, setzt Pappe und Dose an und sprüht eine Farbode an sein Objekt der Begierde. Überall Fensterrahmen, die nachts unheimlich im Nacken sitzen. Fertig. Unbekannt an der Wand. Der verliebte Sprüher flüchtet in die Dunkelheit, aufgeregt und erleichtert über sein gelungenes Vorhaben. Am nächsten Morgen pirscht er sich zurück und stellt sich zwischen die Zeitungsständer der benachbarten vietnamesischen Gemüsehändlerin. Durch die Ritzen der Halterung beobachtet er das Haus. Einen Blick nur soll sie, die Angebetete, auf sein Werk werfen, in ihrem morgendlichen Verdruss kurz innehalten. Lächle doch. Die Tür geht auf, dem
uf, dem Künstler zittern die Knie. Luft anhalten, das ist sie nicht, ausatmen. Die alte Dame, die heraustritt, bemerkt die Veränderung sofort. Abschätzend schließt sie das eine Auge. So was, da wundert sie sich. "Das ist aber kein Graffiti, oder?" Meine Dame, sie ahnen es, das ist kein Graffiti, das ist ein Pochoir. Man sprüht die Farbe durch eine meist aus Pappe geschnittene Schablone an die Wand, das erleichtert das Sprühen. Die Form bleibt kontrollierbar und kann vor allem unendlich oft verwendet werden. Das Verfahren ist nicht etwa neu. Zu jeder Zeit fühlten sich Stadtbewohner dazu verführt, ungefragt Botschaften auf anderer Leute Wände anzubringen. Sie sprühten, kratzten, meißelten, ritzten, pinselten und schnitzten sie sich durch die Epochen. Das erste echte Sprayverfahren entwickelten bereits die Menschen der Steinzeit. Sie zerkauten Kohle oder Manganoxid zu einem flüssigen Brei, den sie um ihre geformten Hände herum mit gespitztem Mund an die Höhlenwand prusteten. Sie fragen sich wohl, warum es bei dieser Mühe eine so hohe Anzahl an Höhlenmalereien gegeben hat. Es mag daran liegen, dass Manganoxid einen tranceähnlichen Zustand hervorruft. Dass dem Künstler vermutlich keine lange Lebensdauer beschieden war, wird nur vermutet. Manganoxid ist hoch giftig. Eine Art Rauschzustand beim Sprühen erleben auch die gegenwärtigen Künstler. Da ist zum einen der leckere Farbgeruch. Zum anderen ergibt er sich aus der Notwendigkeit des Heimlichen gepaart mit der verbotenen Aneignung fremder Flächen. Nachts durch die Straßen zu ziehen und eine Kunstspur hinter sich zu lassen, löst einen inneren Freudentaumel aus. Die Stadt wird zum Bilderbuch verschiedenster Fantasien. Emotionen, Liebesbotschaften, Frust, Protest und Schmähungen werden ausgedrückt, an die Wand gejagt. Richtig begonnen hat die Sache mit den Pochoirs erst Anfang der achtziger Jahre in den Straßen von Paris. Hier sprühte ein Mensch, der sich selbst "Blek le Rat" nennt, im 14. Arrondissement zunächst kleine Ratten und signierte sie mit seinem Namen. Die Bilder wurden dann immer größer und aufwändiger, so dass er die Schablonen zum Schluss durch mehrere Klebestreifen an der Wand fixieren musste. Plötzlich war Blek le Rat in aller Munde - doch keiner kannte seine wahre Identität. Ein aufregendes Spiel. Das hat auch etwas mit Macht zu tun. "Es ist einfach ein tolles Gefühl, wenn du deine Umgebung nach deinem Willen verändern kannst. Dadurch wird der Ort an dem ich wohne erst richtig zu meinem Zuhause.", sagt Tap Dog, ein Sprüher und neu zugereister Metropolenbewohner. In seinem Stadtteil häufen sich in letzter Zeit die Schablonengraffitis. "Das wiegelt sich gegenseitig auf. Wenn einer anfängt zu sprühen, bemerkt es ein anderer und fühlt sich motiviert, auch was auf die Wand zu setzen." Es entsteht eine alternative Form der Kommunikation. "Hier gibt es ziemlich viele Künstler in der Gegend. Die sprühen, um sich gegenseitig aufeinander aufmerksam zu machen." Auffallend ist in der Tat, dass überall dort, wo die "Bohème" wohnt, die Dichte an Pochoirs höher liegt als anderswo. In der Menge der "Tags", also der Kürzel und Schmierereien, drohen sie ein wenig unterzugehen. In den Straßen sind auf Augenhöhe hauptsächlich endloses Gekritzel und Buchstabenfetzen an den Häuserwänden wahrzunehmen. "Visueller Terrorismus" wird das von staatlicher Seite gern genannt. "Der entscheidende Unterschied zwischen uns Pochoiristen und den Taggern ist", so Tap Dog, "dass wir uns vorher Gedanken über unsere Motive machen. Wir achten auf ein friedliches Miteinander." "Tagger" dagegen produzieren ein destruktives Übereinander. Ihre Intention liegt in der Provokation. Die Ablehnung aus der Bevölkerung ist beabsichtigt. Pochoirs dagegen gefallen dem Betrachter in der Regel. Werden diese Werke dadurch denn nun "Kunst"? "Was ist schon Kunst?" fragt die Galeristin Johanna Rieseneder. Nicht zu beantworten. "Pochoirs sind wie Graffiti ein Phänomen des Subkulturellen, man muss sie außerhalb der Begriffe von Museumskunst beurteilen." Einige Sprayer wollen bewusst Kunst machen, andere lediglich sich selbst in Szene setzen: was wiederum Kunst sein kann. Blek le Rats Ziel war es jedenfalls, Bilder jenseits der Vermittlung von Kuratoren und Galeristen auszustellen. Für ihn sollte Kunst nicht nur dann als Kunst zählen, wenn sie mit den herkömmlichen Ausstellungsorten Museum und Galerie in Verbindung gebracht wird. Kunst kann auch ungefragt im öffentlichem Raum entstehen. Er hat sein Ziel erreicht. Seine Bilder wurden "bekannt durch die Wand". In der Szene wird er nach wie vor als Vorbild genannt. Ein Pariser Bäcker verteidigt das von Blek entworfene Pochoir auf seiner Ladenfront liebevoll schon seit mehr als zehn Jahren gegen unwillkommene Schmierereien. Ohne das Bild kann er sich sein Geschäft gar nicht mehr vorstellen. Blek le Rat, der im bürgerlichem Leben Xavier Prou heißt, leitet heute unter seinem Pseudonym eine Kunstschule. Nicht alle Spray-Künstler bleiben also ein illegales "Genie". Auch der deutsche Sprüher Thomas Baumgärtl wurde mit seinen Bananen so berühmt, dass er sie zum Schluss hauptsächlich nach Auftrag sprühte. Er ist inzwischen erfolgreich in den Kunstmarkt integriert. Früher oder später hört jeder Sprayer mit dem nächtlichen Sprühen auf. Irgendwann passt es nicht mehr in die Lebensumstände. Die Sprüher werden älter, nehmen bezahlte Jobs an, gründen Familien und kommen nachts nicht mehr raus. Pochoirs bleiben eben auch, wie Graffiti, eher ein Teil der Jugendkultur. Der wartende Künstler ist enttäuscht. Von der Ersehnten keine Spur. Die vietnamesische Gemüsehändlerin hat sich bei den Apfelkisten platziert und beobachtet ihn misstrauisch. Langsam wird sie feindselig. Dem kann er nicht mehr standhalten und gibt auf, kehrt dem Tatort den Rücken. Übrig bleibt die alte Dame, die dem Bild nicht abgeneigt ist. "Wenn schon alle sprühen müssen, dann doch lieber so was, so ein... wie heißt das Ding gleich noch mal?" Pochoir, Madame, das ist Französisch. Übersetzt ganz einfach: "Schablone".
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