A–Z Jeder fünfte Westdeutsche hat noch nie einen Fuß in den Osten des Landes gesetzt. Dabei gibt es auch abseits der Touristenziele viel zu erleben. Ein Abenteuerlexikon
Anklam Ich war zwei Mal in meinem Leben dort. Einmal auf dem Weg nach Usedom, einmal auf dem Weg von Usedom. Das eine Mal war finstere Nacht, das andere Mal regnete es Bindfäden. Das eine Mal übernachteten wir in einem Hotel ohne Rezeption, das andere Mal tranken wir einen Filterkaffee in der Nähe des Stadtturms. Den schlechten Ruf bezüglich der Rechtsradikalen, den Anklam hat, kann ich weder bestätigen noch dementieren. Ich kenne Anklam auch aus der Literatur. Judith Zanders Dinge, die wir heute sagten spielt in einem Dorf, das in der Nähe liegen muss. Die Autorin wuchs in Anklam auf. Und Frank Castorf ist am dortigen Theater in den 80er Jahren groß geworden. Das weiß ich durch Matthias Matussek (ja, der!), der kurz nach der Wende eine Reportage
k (ja, der!), der kurz nach der Wende eine Reportage über das Anklamer Theater geschrieben hat. Es existiert noch. Am 9. November feiert das Märchen Die Regentrude Premiere. Michael AngeleBBeckerwitz Viele Sommer bin ich in das „Linke Camp zur rechten Zeit“ gefahren. Mit der Bimmelbahn von Münster nach Wismar, von dort fährt ein Bus nach Beckerwitz. Das kleine Dorf besteht hauptsächlich aus einer Jugendherberge, neben der wir auf einer Wiese gecampt haben, zehn Minuten vom Sandstrand entfernt. Morgens konnten wir ausschlafen, gegen Mittag wurde mit Megafon zum Plenum gerufen, die Workshops fanden nachmittags statt. Am Abend gab’s Programm: Filme, Diskussionen, Fußballturnier, Disco oder Lagerfeuer am Meer. Einmal auch einen Brandanschlag von Nazis. Ich habe auf dem Camp gelernt, was der Habitus ist und was eine RZB: eine Romantische Zweierbeziehung (die abzulehnen ist). Ich habe dort meinen ersten Freitag gelesen (Ausgabe Nr. 30 vom 27. Juli 2007), der kostenlos ausgelegt war, neben Broschüren, Flugblättern und anderen Zeitungen. Und ich habe die Vita-Cola entdeckt, die ich in Westdeutschland nie gesehen hatte und bis heute gern trinke. Inzwischen findet das Linke Sommercamp jedes Jahr woanders statt. Felix WerdermannFFeldberg Der namensgleiche Berg mit dem tiefen kalten See liegt in meiner baden-württembergischen Heimat. Was Feldberg im Schwarzwald mit Feldberg in Mecklenburg verbindet, ist die Schönheit der Landschaft – im dem einen Fall in den Bergen, in dem anderen inmitten der schönsten Seen. Als ich diesen Teil des unbekannten Ostens anlässlich eines Besuchs im Fallada-Haus in Carwitz entdeckte, galt er noch als Geheimtipp, man traf viele Sachsen, die dort jahrzehntelang ihren Urlaub verbrachten.Das ist noch immer so, nur dass den Sachsen nun die Schwaben gefolgt sind, die den glasklaren (kalten!) Schmalen Luzin, den Haussee oder den Carwitzer See für sich entdeckt haben.„So ä sches Plätzle finde mr dr hoim net“, schallte es letztes Jahr über den See an mein Ohr. Nun gut, noch wirkt der Tourismus in Feldberg beschaulich, der auf dem Hügel gelegene Kirchplatz lädt zum romantischen Tête-à-tête ein und die Halbinsel Amtswerder mit Abendidyllen. Es möge bitte so bleiben. Ulrike BaureithelIIvenack Man fährt mit der Bahn nach Stavenhagen in Mecklenburg, wo der Volksschriftsteller Fritz Reuter (1810 – 1874) geboren wurde, läuft an den Gleisen entlang, durchquert einen Wald, der am anderen Ende als Park angelegt ist, kommt an der tausendjährigen Eiche vorbei, begegnet einigen Rehen und hat Ivenack nach einer Stunde Fußweg erreicht. Früher saß man dann vor dem Café am Ortseingang und sah das unrenovierte Schlösschen rechts, die renovierte Klosterkirche links und drum herum eine weitere Parkanlage. Das Café gibt es nicht mehr, aber der Park ist noch da: Man geht zwischen den Gebäuden hindurch, findet den Ivenacker See mit seinen Entenfamilien – Vati und Mutti, dazwischen schnurförmig aufgereiht die Kleinen –, und umrundet ihn in zwei abwechslungsreichen Stunden. Michael JägerKKleinwelka Kleinwelka ist mein touristisches Waterloo. Ende der 80er steuerten meine Eltern mit mir den kleinen Ort in der Nähe von Bautzen an. Es war auch damals ein öder Flecken, wäre da nicht der Bildhauer Franz Gruß (1931 – 2006) gewesen. Der goss Dinosaurierfiguren in Originalgröße aus Beton und hatte einen kleinen, aber gewaltigen Urzoo gestaltet. In einem kämpfenden T-Rex-Paar, meine ich mich erinnern zu können, hatte der Künstler ein kleines Ferienhaus eingerichtet. Die grauen Riesen blieben mir als faszinierende Erinnerung im Gedächtnis. Vergangenes Jahr war ich mal wieder in der Region und wollte nach den Sauriern schauen. Es war nichts mehr so, wie es mal war – es war schlimmer. Plaste regiert das, was sich heute Ferienpark nennt. Schon klar: It’s the economy, stupid! Zum Glück habe ich noch Fotos. Tobias PrüwerLLubochow Luboch‘, wie es die Einwohner nennen, ist ein kleines Dorf in der Niederlausitz, inmitten von Feldern auf Braunkohlevorkommen gelegen. Vielleicht ist es die Abgeschiedenheit, die Neu-Lubochower einlädt, „auszusteigen“ – oder zumindest ihre Wochenenden dort zu verbringen. Die Dorfgemeinschaft ist immer noch intakt, wie sich beim Osterfest mit gemeinschaftlichem Eierwallern (Eierschieben) immer wieder zeigt. Lubochow konnte wegen seiner Lage auf einer Anhöhe vor dem Abbriss für den Tagebau bewahrt werden. Heute gehört es zur Gemeinde Neu-Seeland. Der Name verheißt eine fruchtbare Zukunft. Wenn die Ufer des Tagebaurestsees stabil bleiben, der pH-Wert des Wassers stark sinkt und der Pegel weiter steigt, können die Pläne vom Seeparadies aufgehen. Ulrike BewerNNiederdorla Heute drängt jede Partei in die Mitte. Und Niederdorla kann sich guten Gewissens als Mittelpunkt Deutschlands bezeichnen. Ein Ingenieur bestimmte den Ort 1990 zum geografischen Zentrum des frisch vereinten Landes. Zieht man zwischen dem westlichsten Punkt der Bundesrepublik, Havert, und dem östlichsten, Deschka, sowie zwischen Mövenberg/Sylt und Einödsbach je eine Linie, dann kreuzen sich beide in Niederdorla. Das blieb nicht ganz unwidersprochen, aber der Ort setzte sich als der symbolträchtigste Mittelpunkt durch. Denn hier liegt eine frühgeschichtliche Kultstätte: ein sogenanntes Opfermoor. Funde von Mensch- und Tiergebein können im Museum besichtigt werden, manche feiern an dem morastigen Flecken noch heute Sonnenwenden, Ostern und, nun ja, Germanenfeste. Tobias PrüwerOOstberlin Ja, Ostberlin wird oft reduziert: auf den Alexanderplatz, Stände mit russischen Pelzkappen, den gentrifizierten Prenzlauer Berg und Friedrichshain. Da muss es mehr geben, dachte ich mir und machte mich – stilecht mit Schwalbe – auf den Weg. Ich knatterte am Tierpark Friedrichsfelde vorbei und hatte beim Anblick der gegenüberliegenden Hochhäuser das Gefühl, in Warschau zu sein. Zwei Pannen und drei Stunden später erreichte ich Köpenicks Altstadt und fühlte mich wie in einer alten holländischen Siedlung. Ich kam an der alten Försterei vorbei, in der sich jedes Fußballspiel anfühlt wie in England. Am Abend kehrte ich mit stotterndem Motor und einer Erkenntnis zurück: Im wilden Osten Berlins verbergen sich viele Welten. Benjamin KnödlerSSchönborn „Im Paradies wird man nicht angerufen“, grummelte es neben mir. Ich lag mit ein paar Freunden an einem herrlichen Waldsee, es war frühsommerlich warm, das Wasser türkis. Mein Handy hatte zum zweiten Mal geklingelt. Der Empfang ist im Paradies nämlich prächtig, auch wenn es tief in der Niederlausitz liegt, bei der kleinen Gemeinde Schönborn. Dort haben Bekannte ein Hausprojekt gestartet, das typische Freizeit-Aussteigermodell: Ein paar Großstädter kaufen sich für wenig Geld einen so zauberhaften wie heruntergekommenen Hof und bauen ihn wieder auf. In Schönborn gibt es Zeit und Ruhe, einen alten Hühnerstall, ein verwildertes Landstück. Sehr romantisch. Als wir beim Essen über Gemüsebeete sprachen, zeigte sich aber doch die Landidylle in all ihrer Ambiguität: Regionale Lebensmittel sind dort nicht zu bekommen – viel zu teuer. Die lokale Bevölkerung kauft längst bei den lokalen Discountern. Das Paradies gibt es nicht mehr ohne Lidl. Juliane LöfflerWWeimar Spätsommer 1990 während meiner ersten Reportagereise durch die DDR, kurz vor der Wiedervereinigung: Noch gibt es keine funktionierenden Telefonverbindungen. In Weimar platzen wir unangemeldet in das alte, verwinkelte Hinterhaus am Goetheplatz hinein, wo die Bürgerbewegung residiert, und auch der Unabhängige Frauenverband (UFV), in einem kargen Büro. Für die Landtagswahlen in Thüringen kandidiert der UFV alleine, weder die Grünen noch das Neue Forum oder die PDS wollten die Frauen auf ihrer Liste haben. Die Stimmung ist gedrückt, nichts ist mehr da von der Euphorie im Herbst zuvor. Und noch deutet nichts darauf hin, dass sich Weimar einmal als Domizil für gutsituierte Senioren herausmausern würde. Ulrike BaureithelQQuedlinburg Diese Stadt im Regenschatten des Harzes trägt keinen besonders schönen Namen, dafür ist sie selbst umso reizvoller. Kriege konnten ihr kaum etwas anhaben. Und das trockene Klima mag ein Grund sein, dass die Gebäude dort langsamer verfallen als anderswo. Quedlinburg blickt auf eine tausendjährige Geschichte zurück, die durch Bauwerke anschaulich dokumentiert ist. Zu DDR-Zeiten genügten die Ressourcen nicht, um den langsamen Verfall ganz aufzuhalten. Zum Glück fehlten aber auch die Mittel, diesem vorzugreifen und die Altstadt abzureißen. Seit 1990 kann diese restauriert werden. Schon seit 1994 gehört Quedlinburg zum UNESCO-Weltkulturerbe. Bis heute sind von 3500 Gebäuden noch 400 zu restaurieren, wobei 150 inzwischen tatsächlich zu verfallen drohen. Ulrike BewerZZschöchergen Du wohnst bitte wo? Zschöchergen ist nur ein Beispiel – allerdings das heftigste – für die Zischlautkaskaden in südsächsisch-anhaltinischen und westsächsischen Gemeindenamen. Als weitere Exemplare wären zu nennen: Zschocher und Mutzschen, Gautzsch und Kitzscher, Kötzschau sowie Lützschena. Zschöchergen, es bildet heute zusammen mit Kötschlitz und Möritzsch eine Gemeinde, liegt zwischen Merseburg und Leipzig. Sein z wird eigentlich nicht mitgesprochen, auch bei den anderen Ortsnamen nicht. Sie alle sind Eindeutschungen oder deutsche Entsprechungen von vor- und altsorbischen Siedlungsbezeichnungen. Warum sich über die Jahrhunderte keine einfachere Schreibweise eingebürgert hat, wie es im Sprachgebrauch sonst oft der Fall ist, bleibt ein linguistisches Rätsel. Tobias PrüwerPlaceholder link-1Placeholder link-2Placeholder link-3Placeholder link-4Placeholder link-5
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