USA Strafvollzug durch zermürbende Isolationshaft – Thomas Silverstein ist seit 28 Jahren eingesargt in Stahl, Beton und Einsamkeit. Jetzt hat er auf Haftmilderung geklagt
Beim Justizvollzug gelten in den USA und in Westeuropa unterschiedliche Maßstäbe. Nicht nur wegen der Todesstrafe. In Deutschland werden alte und gebrechliche Häftlinge entlassen. Amerikanische Haftanstalten richten Pflege- und Hospizabteilungen ein für die ganz Alten und Kranken. In Deutschland regt man sich auf über Guantánamo. In den USA weniger. Und da, wo der 59-jährige Thomas Silverstein existiert, sieht das Lager Guantánamo gar nicht so schlecht aus.
„Ich bin seit 10.220 Tagen in Isolationshaft. Das sind 336 Monate oder 28 Jahre“, schrieb Silverstein vergangenen Februar in einem Gesuch, um seine Isolierung zu mildern. In den Akten der Gefängnisbehörde Bureau of Prisons (BOP) heißt es: „Thomas Edward Silverstein,
lverstein, No. 14634-116, weiß, männlich, Entlassung am 22. Februar 2095, inhaftiert im Supermax-Bundesgefängnis Florence im Administrative Maximum.“ ADX, wie die Abteilung genannt wird, bedeutet, weggesperrt zu sein in Einzelzellen aus Beton und Stahl, 22 oder 23 und manchmal 24 Stunden am Tag in Gesellschaft eines Schwarz-Weiß-Fernsehapparats. „Abgesehen von gelegentlichem Haare-Schneiden, von Leibesvisitationen und medizinischen Untersuchungen beschränkt sich mein menschlicher Kontakt seit 28 Jahren auf das Anlegen der Handschellen und auf Schließer, wenn sie mich führen“, berichtet Silverstein.Das Essen kommt durch eine Klappe in der Stahltür. Beim „Hofgang“ geht Silverstein allein auf einen betonierten Platz, der umgeben ist von einer hohen Mauer. Ein paar Schritte hin, ein paar Schritte her. Er fürchte um seinen Verstand. „Ich kann mich an bestimmte Wörter nicht mehr erinnern.... Mein Kopf ist immer in einem Nebel.“ Er habe Wahnvorstellungen. Und selbst im Traum sei er in Isolierung.Fensterlose KellerzelleSilverstein, verurteilt zu dreimal lebenslänglich plus 45 Jahren, wegen dreier Morde, darunter einen an einem Gefängniswärter, ist von den Häftlingen des US Bureau of Prisons der am längsten eingesperrte Isolationssträfling. Strenge Einzelhaft gehört in den USA zum Justizvollzug. Bis auf ADX Florence, zwei Autostunden entfernt von Denver im Rocky-Mountains-Staat Colorado, werden die 30 Supermax-Haftanstalten von den Justizbehörden der jeweiligen Bundesstaaten gemanagt. Menschenrechtler schätzen, dass mehr als 20.000 Gefangene in Isolationshaft sitzen. Manche zum Schutz vor Mithäftlingen. Manche, weil sie als gefährlich gelten und Schließer verärgert haben.Im amtlichen Sprachgebrauch freilich gibt es keine Isolationshaft, sondern special housing units – besondere Unterbringungen. Kritik daran, zumal die aus dem Ausland, verhallt in den Vorzimmern. Auch unter Obama, sagt Juraprofessorin Laura Rovner von der University of Denver, die Silversteins Antrag betreut: Sie sehe keinerlei Veränderungen beim Justizvollzug in ADX Florence. Die Staatsanwaltschaft vertrete nach wie vor die Ansicht, Silversteins Behandlung sei weder grausam noch ungewöhnlich. „Einzelhaft ist entsetzlich. Sie erdrückt deinen Geist und schwächt deinen Widerstand stärker als jede andere Form der Misshandlung“, schrieb einst der republikanische Senator John McCain über zwei Jahre Isolation als Kriegsgefangener in Nordvietnam.Silversteins Schicksal wurde im Buch Hot House des Washington-Post-Reporters Pete Earley behandelt, der das Hochsicherheitsgefängnis Leavenworth in Kansas beschrieb, in dem Silverstein Jahre eingesperrt war – 18 Monate davon in einer fensterlosen Kellerzelle. CNN hat sich vor kurzem mit diesem Fall befasst, auch Medien in Denver berichten gelegentlich. Und Professorin Laura Rovner sagt, sie habe sich der Sache angenommen, weil Silversteins Behandlung „so entsetzlich, so außerordentlich“ sei. Der wolle doch so wenig. Entlassung stehe gar nicht zur Debatte. Silverstein wolle nur wissen, was er tun müsse, um seine Isolation zu mildern.Der Mann ist kein „attraktiver“ Häftling. Obwohl er inzwischen, wenn er Zeichenmaterial bekommt, ergreifende Bilder malt. Er häkelt und hat zum Buddhismus gefunden. Früher war er bei der rassistischen Aryan Brotherhood. 1971, damals war er 19, kam er erstmals ins Gefängnis wegen bewaffneten Raubes. Ein paar Jahre später wieder raus. 1977 wurde er erneut des Raubes schuldig gesprochen. Wieder im Strafvollzug soll er einen Mithäftling namens Danny Atwell erstochen haben, bekam dafür lebenslänglich und wurde 1980 in das Hochsicherheitsgefängnis Marion in Illinois verlegt. 1985 hob ein Gericht das Atwell-Urteil auf, aber da war es viel zu spät.Im Bericht der Gefängnisbehörde über den Vorfall in Marion, der Silverstein zum isoliertesten Gefangenen der USA machen sollte, ist zu lesen: „Am Vormittag des 22. Oktober 1983 tat der Beamte Merle E. Clutts Dienst in der Abteilung H. Er wurde gegen 10.30 Uhr vom Häftling Thomas Silverstein angegriffen. Obwohl Silverstein auf dem Weg zurück von der Dusche Handschellen trug, konnte er sich von dem begleitenden Beamten lösen. Silverstein rannte zu einer anderen Zelle. Ein Komplize öffnete seine Handschellen und gab ihm ein Messer.“ Dann habe Silverstein auf Clutts eingestochen. Clutts starb. Der Hintergrund: In Marion wütete ein Rassenkrieg. Silverstein hatte angeblich zwei afro-amerikanische Gang-Mitglieder ermordet. Und der Beamte Clutts habe ihn besonders drangsaliert, behauptete Silverstein.Nach dem Mord wurde der Täter in das Hochsicherheitsgefängnis Atlanta verlegt. Die Todesstrafe gab es damals nicht bei solchen Fällen, aber das Bureau of Prisons fand eine passende Strafe: Vollständige Isolierung, kein menschlicher Kontakt. Ein Behördenvertreter dazu: „Wir können Silverstein nicht hinrichten, also müssen wir sein Leben zu einem Leben in der Hölle machen.“Platz für eine MatratzeIm ersten Jahr in Atlanta sei er in eine Zelle tief im Keller gesperrt worden, gerade groß genug für eine Matratze. Die Wände weiß gestrichener Stahl. Er habe den Sinn für die Wirklichkeit verloren, schrieb Silverman in seinem Antrag auf Milderung, und nach dem Aufwachen Traum und Wirklichkeit nicht unterscheiden können. Ende 1987 sei er nach Leavenworth verlegt worden, zunächst wieder in eine Kellerzelle.Im Juli 2005 kam Silverman in das neue ADX in Florence. Dort sitzen, ebenfalls isoliert, auch der „Schuhbomber“ Richard Reid, der so genannte Unabomber Ted Kaczynski, der Ex-FBI Beamte und KGB-Spion Robert Hanssen und Dutzende Verurteilte aus der Drogen- und Terrorszene.Juraprofessorin Rovner ist nicht unzufrieden mit dem bisherigen Verlauf des Antrags auf Haftmilderung. Der zuständige Richter Philip Brimmer habe trotz Einspruchs vom US-Justizministerium einen Verhandlungstermin anberaumt. Am 23. Januar 2012 wird sich ein Gericht in Denver nun mit der Frage befassen, ob Silversteins Isolationshaft verfassungsgemäß ist. Das Urteil hätte Auswirkungen auf die Haftbedingungen für andere Gefangene in gleicher Lage. Amnesty International hat im Juni auf das Schicksal von zwei Häftlingen in Lousiana aufmerksam gemacht. Mit kurzen Unterbrechungen sitzen Herman Wallace und Albert Woodfox seit fast 40 Jahren in Einzelhaft im berüchtigten Angola-Hochsicherheits-Gefängnis.Silverstein hat seinem Antrag ein „Tagebuch“ beigefügt über sein Leben im Dezember 2010. Am 27. Dezember, einem vergleichsweise lebhaften Tag, sah das so aus: 24 Uhr: Zählen / 3 Uhr: Zählen / 5 Uhr Zählen / 6:27 Uhr Essen („Chow“) / 6:48 Uhr Tablett abgeholt / 7:30 Uhr Hofgang / 9:30 Uhr Zurück vom Hofgang / 10:50 Uhr Essen, Eisausgabe / 11:53 Uhr Tablett abgeholt / 13:30 Uhr Beamter bringt etwas zum Unterschreiben / 14:00 Uhr der Leutnant und ein fetter Mann im Anzug kommen vorbei / 15:00 Uhr zwei Wärter bringen Wäschesack / 16:06 Uhr Essen, Eis, Zählen / 17:06 Uhr Tablett abgeholt / 20 Uhr Zählen / 21:30 Zählen. – Silverstein hat nachgerechnet: Er habe etwa anderthalb Minuten menschlichen Kontakt gehabt mit den Wärtern an diesem Tag, Tablett-Abholen und Zählen eingeschlossen. Wie seit 28 Jahren keinen Kontakt mit anderen Häftlingen. Und dann kommt ein neuer Tag.
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