Seit Jahren schon, immer mehr und zugespitzt in diesem Frühling, Sommer und Herbst der "Reformen", steht die SPD in der Zerreißprobe. Sie muss häppchenweise die Politik der FDP beschließen, die der Kanzler dann umsetzt. Die Selbstzerstörung des SPD-Programms ist noch keineswegs am Ziel; dem Herbst wird ein Winter, dem Winter ein neuer, noch kälterer Frühling der "Reformen" folgen. Wie halten die Genossen das aus? Kann man einen Punkt im voraus bestimmen, an dem die Partei wirklich zerreißt?
Die Politik der Oppositionsführerin zielt auf ein solches Ereignis. Gerhard Schröders Absicht, die dritte Stufe der Steuerreform vorzuziehen, ist jetzt Beratungsgegenstand im Vermittlungsausschuss. Nur wenn es dort einem Kompromiss mit der Union gibt, kann er, wie er will. Angela Merkel will es ihm aber schwer machen. Er soll zum Beispiel einer Aushebelung des Flächentarifvertrags zustimmen. Das ist eine Falle: Sagt er nein, sind ihm die Hände gebunden, und die Umfragewerte der SPD sinken noch tiefer - sie liegen zur Zeit bei 23 Prozent. Sagt er ja, laufen die Gewerkschaften Sturm. In beiden Fällen, so rechnet Merkel, müsste die SPD allmählich den Bruchpunkt erreicht haben.
Wahrscheinlich ist das zutreffend. Dennoch kann man sich vom Eintreten dieses Ereignisses nur überraschen lassen. Antizipierbar ist es nicht. Man kann jedenfalls nicht in einer Art Grenznutzenrechnung die zusätzliche Kröte nennen, die der SPD im Hals stecken bleiben muss. Es ist zwar davon auszugehen, dass es einen Bruchpunkt tatsächlich gibt, auch wenn Schröder sicher gern glauben möchte, dem wäre nicht so. Wie Bäume nicht in den Himmel und ihre Wurzeln nicht in die Hölle wachsen, so die SPD nicht ins unendlich Antisoziale. Aber um wie viel Zentimeter ein Baum sich nun genau ausdehnt, das wissen wir nicht. Im Übrigen täuscht die Eindimensionalität der Baum- und Krötenbilder. Sie lenkt die Erwartung auf ein Ereignis der Art, dass irgendwann eine SPD-Mehrheit in den Ruf ausbricht: "Nein, diese Kröte nicht mehr!" Das wird niemals passieren. Wenn es so weit ist, wird Schröder über etwas stolpern, von dem es scheint, es habe mit seiner antisozialen Politik unmittelbar gar nichts zu tun. Denn diese spottet längst jeder Beschreibung. Sie kann der Maßstab nicht mehr sein.
Ist ein Bruchpunkt einmal erreicht, wundert man sich oft nachträglich über das auslösende Ereignis. Es kommt einem nicht wichtig genug vor. Musste Willy Brandt zurücktreten, weil ein Spion in seiner Nähe von Frauengeschichten wusste? Schwerlich, das war nur die öffentliche Story. Herbert Wehner, damals SPD-Fraktionschef, hatte ihn mit den Worten "Der Kanzler badet gern lau" schon vorher fallen gelassen. Vielleicht wird die Pflicht, den Kanzler abzuservieren, auch diesmal dem Fraktionschef zufallen.
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