"Indem man ins Wahllokal rennt und ein Kreuzchen macht, erliegt man der Illusion, dass die da oben wirklich von uns zum Regieren bestimmt worden sind." Wenn Jörg Bergstedt daran denkt, wie selbstverständlich es für die meisten Bürger ist, alle vier Jahre ihre Stimme abzugeben, merkt er nicht, wie seine Stimme vor Erregung zittert.
Er wählt nicht. Dafür wird er anders aktiv, wenn die Wahlkampfphase beginnt.
Mit einigen Mitstreitern zieht er zu Parteiständen und in Wahllokale, um die dort Versammelten aufzurütteln. "Was wählen?" schallt es aus einer der Wahlkabinen. "Ich weiß nicht", kommt die Antwort über die Köpfe der Anwesenden hinweg zurück: "Ist das nicht alles dasselbe?"
Die kreativen Aktionen der Giessener Projektwerkstatt erregen Aufsehen. Ihre Mitglieder gehören zu den sogenannten "aktiven Nichtwählern". Dem gegenüber steht die immer größer werdende Gruppe von Menschen, die aus verschiedenen Gründen lieber zu Hause bleibt. Besonders bei jungen und alten Menschen ging die Wahlbeteiligung in den vergangenen Jahren stark zurück, insgesamt enthielten sich bei der vergangenen Bundestagswahl etwa zwölf Millionen Menschen ihrer Stimme. Und die Wahlbeteiligung bei den letzten Europawahlen war ein richtiges Desaster.
Auf diversen Internetseiten formieren sich die Vorstellungen der aktiven Nichtwähler. Methoden und Ziele gehen weit auseinander. Es werden an zentraler Stelle Wahlzettel gesammelt, Anti-Wahlplakate angeboten und Informationen zum ungültig Wählen angeboten. Konkrete alternative Vorstellungen finden sich kaum. Jörg Bergstedt dagegen bemüht sich, der bestehenden Gesellschaft etwas entgegenzusetzen. "Freie Menschen in freien Vereinbarungen" - dieser Slogan steht für seine Utopie, in der Menschen friedlich, ohne Parlamente, Polizei und Gerichte zusammenleben.
"Eine herrschaftsfreie Utopie kann man trotzdem nicht exakt vordenken, weil man nicht kalkulieren kann, wie Menschen sich verhalten", räumt Bergstedt ein. Gerade weil die Vorstellungskraft über das bestehende System nicht hinausreicht, hält er es für unerlässlich, neue Ansätze zu kreieren und zu diskutieren. Von bloßem Unverständnis bis hin zu begeisterter Zustimmung reichen die Reaktionen auf die Aktionen der Projektwerkstatt. "Richtig so, endlich sagt mal jemand, wie es wirklich ist!", erinnert sich Bergstedt an Zurufe vorübergehender Passanten bei der Europawahl im Juni. Aktivisten waren in Bundeswehruniform durch die Stadt gezogen, um auf Mängel der Europakonzeption aufmerksam zu machen.
Auch wenn der Wahlakt gesellschaftlich akzeptiert und verankert ist, stellen Politikwissenschaftler wie Ronald Inglehart fest, dass dies auch durchaus wieder in Frage gestellt werden kann. Steigendes Bildungsniveau, die stärkere Einbindung von Frauen in politische Entscheidungsprozesse sowie postmaterialistische Wertevorstellungen wirken nach Einschätzung Ingleharts politisierend. Vielleicht steigt damit auch die Diskussionsbereitschaft, die Bergstedt festgestellt haben will.
Seitens der Polizei ist diese oft weniger ausgeprägt. Platzverweise, Festnahmen und Anklagen werden von Bergstedt und seinen Mitstreitern in Kauf genommen, um "den Menschen vor Augen zu führen, dass die Möglichkeiten zur Mitbestimmung in einer Demokratie nur wenig größer sind als die in einer Diktatur".
Uwe Steg steht derlei radikalen Aktionen skeptisch gegenüber. Als der Mittdreißiger mit dem kurzen Blondhaar das Cafe am Berliner Kollwitzplatz betritt, wirkt er ordentlich, fast ein wenig bieder. Doch seit er denken kann engagiert sich Steg bei der anarchistisch geprägten Graswurzelrevolution. Auch seine Organisation lehnt das parlamentarische Wahlspektakel ab. Die Methoden, einer herrschaftsfreien Gesellschaft entgegenzuarbeiten, sind jedoch anders als die der Projektwerkstatt: "Aufmerksamkeit mit Einzelaktionen erregen bringt nicht viel. Wir versuchen viel mehr schon jetzt Strukturen aufzubauen, um für den Fall eines Umsturzes, vorbereitet zu sein", sagt Steg und schickt seinen unruhig werdenden Sohn auf den Spielplatz.
Dass Uwe Steg Familie hat, ist bei aktiven Nichtwählern eher eine Ausnahme. Die von der Wahlforschung definierten "aktiven Postmaterialisten" sind meist unter 35, ledig, jeder vierte ist Student. Ihr Bildungsniveau ist grundsätzlich sehr hoch. Auch die Graswurzelrevolution hat einen fundierten theoretischen Hintergrund. Eine systemalternative Möglichkeit sieht sie in der "Demarchie", einem Netzwerk aus verschiedenen Entscheidungsgremien, die sich jeweils mit einem bestimmten Arbeitsbereich befassen. Uwe selbst favorisiert die Idee eines Rätesystems mit Basisgruppen in den Betrieben. "Auf eine bestimmte Utopie wollen wir uns aber nicht festlegen", betont er. Ob der Boykott der Wahlurne ihn dieser Vorstellung näher bringt, bezweifelt er. "Ungültig zu wählen ist für mich eher persönliches Prinzip als ein Weg zur Veränderung."
Auch der Politikstudent Paul Horn ist dieser Meinung. "Ich wähle ungültig, obwohl ich weiß, dass das nichts ändert. Bei mir ist das eine Mischung aus fundamentaler Kritik am politischen System Deutschlands und der Tatsache, dass ich mich von keiner der Parteien genügend repräsentiert fühle." Das Interesse an Politik bewegte Paul dazu, das Fach Politikwissenschaften an der FU Berlin zu belegen. Nicht nur die Informationen zur politischen Bildung verschlang er im Laufe des Studiums, auch in anarchistischer Literatur und marxistischer Theorie ist er zuhause.
Die Forschung bestätigt den Eindruck, den Horn hinterlässt: Der aktive Nichtwähler hält sich für politisch kompetent, traut sich zu, die bestehenden Verhältnissen beeinflussen zu können und nimmt aktiv am politischen Geschehen teil. Dass er von seinem Mitbestimmungsrecht alle vier Jahre trotzdem keinen Gebrauch macht, ist für Paul Horn persönliche und politische Entscheidung zugleich. Leicht fällt ihm das allerdings nicht, gibt der junge Mann in Baggypants zu. "Denn natürlich sehe ich, dass es für eine alleinerziehende arbeitslose Frau einen Unterschied macht, ob eine CDU- oder SPD-Regierung an der Macht ist". Auch andere Nichtwähler sagen in Umfragen, Wahlen nicht grundsätzlich ablehnend gegenüber zu stehen und gegebenenfalls, wenn sich die Verhältnisse geändert hätten, zur Wahl gehen zu wollen.
Einer Nichtwählerorganisation hat Paul sich nie angeschlossen - einfach aus Zeitmangel. Dass es sie gibt, findet der junge Mann trotzdem wichtig: "Egal, was jemand tut, um etwas zu verändern. Hauptsache ist, dass er es tut." Das ist auch der Grund, warum Paul die Szene der Nichtwählerorganisationen schon lange beobachtet. Die Bilanz seiner Beobachtungen stimmt ihn allerdings nicht gerade froh. "Das Problem ist, dass die meisten Initiativen nach wenigen Monaten wieder im Sande verlaufen. Dadurch wird es sehr schwer, miteinander zu kooperieren, selbst wenn die Ansichten ausnahmsweise einmal übereinstimmen. Die Organisationen bleiben versplittert und eine breite Bewegung kommt nicht ins Rollen."
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