Wenn es um das Verhältnis von Armut und Reichtum geht, wird den meisten wohl gleich das berühmte Brecht-Zitat von 1934 einfallen: „Reicher Mann und armer Mann / standen da und sah’n sich an. / Und der arme sagte bleich: / Wär’ ich nicht arm, wärst du nicht reich.“ Brecht bezieht sich hier auf die Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums.
Wie richtig seine Aussage auch heute noch ist, zeigen die Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte. Die neoliberale Politik der Umverteilung von unten nach oben hat dafür gesorgt, dass in so gut wie allen Industriestaaten die Armen deutlich ärmer und die Reichen deutlich reicher geworden sind. In den USA etwa liegt das reale mittlere Einkommen heute niedriger als Mitte der 1970er Jahre. Das oberste Promille hat demgegenüber sein Einkommen seit 1981 fast versiebenfacht. In Deutschland hat das untere Zehntel der Bevölkerung seit 1999 real 14 Prozent verloren, das obere Zehntel 17 Prozent gewonnen.
Dazu beigetragen hat, dass die Steuerbelastung des unteren Zehntels in diesem Zeitraum um über fünf Prozent gestiegen, die des oberen Prozents um fast denselben Prozentsatz gesunken ist. Die Finanzkrise hat die Spaltung noch forciert. Obwohl die Reichen anfänglich Verluste hinnehmen mussten, haben die zahlreichen Stützungsmaßnahmen für die Finanzwirtschaft diese Verluste inzwischen in massive Gewinne verwandelt. Die Verluste sind sozialisiert worden, die Gewinne blieben privat.
Es gibt aber noch eine andere Ebene, auf der die Aussage von Brecht ebenfalls zutrifft. Sie wird in vielen Beiträgen zur #unten-Kampagne angesprochen. Es geht dabei um das, was der Soziologe Pierre Bourdieu als legitimen Lebensstil oder legitime Kultur bezeichnet hat. Auch hier finden Klassenauseinandersetzungen statt. Was als legitim gilt, ist das Ergebnis dieser Auseinandersetzungen. Wie man sich richtig und angemessen verhält, wird von denen definiert, die über Macht und Geld verfügen. Wer nicht in privilegierten Verhältnissen aufgewachsen ist, wird sein ganzes Leben lang mit dieser Tatsache konfrontiert.
Die Angst, durch falsches Verhalten aufzufallen, und die Scham, wenn es trotz aller Bemühungen doch passiert, verlassen die meisten nie. Je weiter unten jemand in der gesellschaftlichen Hierarchie groß geworden ist, umso schwerer wiegt das. Wenn man schon seit der Kita die Erfahrung macht, dass bei der Suche nach Schuldigen immer zuerst die Kinder der Armen ins Visier genommen werden und die der Akademiker-Eltern immer zuletzt, prägt das in der Regel für den Rest des Lebens.
Dasselbe gilt für die Bewertung von schulischen Leistungen. Akademiker-Kinder profitieren hier nicht nur von ihren besseren familiären Voraussetzungen, sondern zusätzlich auch noch von einer besseren Bewertung durch die Lehrkräfte bei gleicher Leistung. Da diese Tatsache den Betroffenen aber als leistungsgerechte Bewertung präsentiert wird, bleibt in der Regel nur stiller Protest oder, wie meist, das Gefühl, nicht gut genug zu sein. Nichts stabilisiert Herrschaft und die damit verbundenen Privilegien so perfekt wie der Glaube der Beherrschten an deren Legitimität.
Jeder lebt für sich allein
Die neoliberale Politik hat all das noch einmal massiv verstärkt. Die Aussage „There is no such thing as society. There are only individual men and women“ der ehemaligen britischen Premierministerin Margaret Thatcher bringt es auf den Punkt: Jeder ist für sein Schicksal selbst verantwortlich.
Gab es zuvor für die Angehörigen der Arbeiterklasse noch ein kollektives Selbstbewusstsein, das sich in eigenen Organisationen und einer eigenen Kultur niederschlug, so ist man heute weitgehend auf sich selbst zurückgeworfen. Es war daher für Thatcher auch enorm wichtig, diese kollektiven Zusammenhänge zu zerschlagen. Die brutale Niederwerfung des Bergarbeiterstreiks 1984/85 markiert den entscheidenden Wendepunkt. Denn die Bergarbeiter repräsentierten die kollektiven Traditionen und das Selbstbewusstsein wie kein anderer Teil der britischen Arbeiterklasse.
Die konservative Regierung hat dementsprechend alle Mittel eingesetzt, um den Konflikt für sich zu entscheiden. Mit der umfassenden Niederlage der Bergarbeiter nach mehr als einem Jahr Streik war dieses Ziel erreicht. Die neoliberale Politik konnte nun ungehindert durchgesetzt werden. Durch sie wurden nicht nur kollektive Zusammenhänge zerstört und kollektive Identitäten entwertet, es wurden auch Klassenstrukturen und -konflikte umdefiniert in individuelle Entscheidungen. Jeder kann es schaffen, und wer es nicht schafft, ist selbst schuld: So lautete das neue Dogma, das bis heute dominiert.
Bildung wurde zum zentralen Mittel für die Lösung gesellschaftlicher Probleme. Dass die soziale Herkunft die Bildungschancen entscheidend beeinflusst, wird zwar gesehen. Dem kann man aber durch Veränderungen im Bildungssystem begegnen, so der Glaube der Verantwortlichen. Was ungeachtet möglicher Fortschritte aber ignoriert wird, ist die Tatsache, dass eine zentrale Voraussetzung der Angleichung von Bildungschancen in der Angleichung der materiellen Lebensbedingungen besteht. Armut führt auch beim besten Bildungssystem zu schlechteren Abschlüssen.
#unten, und das ist ein großes Verdienst, macht darauf aufmerksam, dass es im Kern um Klassenstrukturen geht und nicht um individuelles Versagen. Damit ist ein Anfang dabei gemacht, die herrschenden Vorstellungen von dem, was legitim ist und was nicht, ernsthaft zu hinterfragen.
Kommentare 6
Thatcher hatte Arthur Scargill und der National Union of Mineworkers den Krieg erklärt und Bürgerkrieg geführt, nach dem Sieg mit dem Thatcherismus und den Reaganomics den Neoliberalismus von der Kette gelassen. Wer erinnert sich nicht noch mit Grausen an die Exzesse der New Economy in den neunziger Jahren. Man darf noch erwähnen, der Labour Premier Blair, der britische Schröder, hat später sogar in einigen Politikfeldern damit geprotzt, Thatcher nachzueifern. Die Wunden die Thatchers Bürgerkrieg gerissen hat, kann man in den alten Stahl- und Kohlerevieren auf der Insel heute noch spüren und greifen.
Die „soziale Frage“ und das Ding mit der „Klassenstruktur“ hat uns ja schon Karl Marx gelehrt. (Was wird der doch Jahr für Jahr aktueller, frischer, richtiger!) „Lebensverhältnisse angleichen“ hört sich schön an, durch Handauflegen wird es nicht passieren und abgeben werden die Reichen nichts. Sie werden weiter höchstens wohltätig sein. Wie sagte Pestalozzi: „Wohltätigkeit ist das Ersaufen des Rechts im Mistloch der Gnade.“ Die im Mistloch sitzen, die Unterschicht, die Abgehängten und die Armen müssten sich selber daraus erheben, ihr Schicksal meistern, also den Klassenkampf aufleben lassen. Weil „hinterfragen“ allein wird es nicht bringen. In einem Land wie Deutschland fehlt einem der Glaube an das große Aufbegehren. Andernorts ticken die Uhren dann doch revolutionärer und die da unten begehren immer öfter auf.
Ergänzend dazu sollte man sich den letzten Vortrag der Teleakademie genehmigen.
"Gab es zuvor für die Angehörigen der Arbeiterklasse noch ein kollektives Selbstbewusstsein, das sich in eigenen Organisationen und einer Kultur niederschlug, so ist man heute weitgehend auf sich selbst zurückgeworfen."
Diese Erkenntnis sollten sich Nahles und Konsorten hinter die Ohren tackern. Er enthällt die Lösung der dort ventilierten Frage, warum die SPD dermaßen an Zuspruch verloren hat. Wie schwerfällig der "Tanker" SPD ist, das merkt man an der Marginalität des Erkenntnisprozesses. Der derzeitige Koalitionspartner CDU macht es den Sozen vor und beweist, das nicht die Größe der Partei die Schwerfälligkeit bedingt. Der Wille zur Veränderung ist das Entscheidende. Was wiederum beweist, das dieser Wille bei der selbsternannten Volkspartei SPD nach wie vor nicht ausreichend ausgeprägt ist.
Reine Erich schreibt: "Der Wille zur Veränderung ist das Entscheidende. Was wiederum beweist, das dieser Wille bei der selbsternannten Volkspartei SPD nach wie vor nicht ausreichend ausgeprägt ist."
Entscheidend ist naturgemäß auch die Richtung der Veränderung.
Man kann nicht sagen, dass sich die SPD vor allem in den letzten beiden Jahrzehnten nicht verändert hätte. Schaut man sich die Wahlergebnisse an, dann waren diese Veränderungen aber ganz offensichtlich nicht sehr erfolgreich im Sinne der Wähler.
Oder halten einige SPD-Politiker die Bürger und potentiellen/tatsächlichen Wähler wirklich für so dämlich, dass diese die "Genialitiät" und "Weisheit" der SPD-Politik nicht erkennen? (Das gilt natürlich auch für die Politik der anderen sogenannten "Volksparteien", die CDU bzw. CSU.)
Die zwei größten Totengräber in der Nachkriegs-Geschichte der SPD waren ein Herr mit dem Namen Gerhard Schröder und einer, der sich "Sarrazin" nennt. Den Blender habe ich seinerzeit leider auch einmal gewählt, den zweiten konnte man bislang nicht einmal abwählen. Dieser Autor und deutschnationale Ehrenmann, dessen Ansichten eher zur NSDAP passen als zur einer sozialdemokratischen Partei, ist meines Wissens aber immer noch in der SPD.
In einem (anderen) Buch, in dem es um Routen, Ausrüstung und Tipps zum Wandern in den Alpen ging, schrieb der Autor, ein versierter und erfahrener Bergführer, dass viele Unfälle in den Alpen dadurch geschehen, dass sich die Bergsteiger selbst überschätzen, aber ihnen der Mut fehlt, umzudrehen, wenn sie zum Beispiel feststellen, dass das Wetter wenige Meter vor dem Gipfel umschlägt.
Nun, keiner kann mir erzählen, dass das aktuelle Führungspersonal und die Delegierten der SPD so blind sind und nicht gemerkt haben, dass sie überhaupt nicht mehr auf dem Weg zum Gipfel sind.
Ist das nun Arroganz, bornierte Dummheit oder fehlt der Mut, zuzugeben, dass es am neoliberalen Weg liegt, der für die SPD nach unten führt und kein Weg zum Gipfel ist.
Was haben denn die Linken and so on... eigentlich die ganzen Jahre gemacht? Massenhaft in Parteien eingetreten, um Veränderungen, mühsam zwar, anzustoßen? Oder chic mal eben demonstriert, gegen dies und das und jenes, bis eine Demo-Themen-Verschwurbelung die Schlagkraft für die vorrangigen Themen verloren ging?
Zitat: "... Oder chic mal eben demonstriert."
Ich gestehe, ich habe in meinem Leben auch noch nicht so oft auf der Straße demonstriert. Aber immer dann, wenn ich demonstriert habe, habe ich "alte" Klamotten angezogen.
Außerdem werden Meinungen in den Zeiten der Massenmedien und des Internets nicht mehr auf dem Forum Romanum bzw. auf der Straße artikuliert. (Das eine schließt das andere natürlich nicht aus.)
Aber ich mache Ihnen einen Vorschlag: Ich gründe einen gemeinnützigen Verein, Sie spenden 50 Millionen Euro und ich organisiere dann ehrenamtlich (!) eine PR-Kampagne, um die Bürger über die neoliberale Volksverdummung aufzuklären.
Die sogenannte "Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft" macht zum Beispiel auch PR, aber dieser Verein macht eben PR gegen den Sozialstaat und gegen die Demokratie und für die Interessen der Hyperreichen, mehr Kapitalismus und noch mehr neoliberale Reformen.
Wo ist jetzt das Problem? Oder sind Sie etwa gegen Demokratie und gegen Aufklärung? Ich gebe ganz offen zu, ich habe keine 50 Millionen Euro.