François Hollande stemmt sich gegen den Abwärtssog, allerdings ohne merklichen Erfolg. Zuerst unterlag er in seinem „Krieg gegen den Terror“ mit einem ebenso abwegigen wie chancenlosen Vorhaben, verurteilten Terroristen mit doppelter Staatsbürgerschaft die französische abzuerkennen. Dann ließ er sich vom liberalen Wirtschaftsminister Emmanuel Macron und Arbeitsministerin Myriam El Khomri zu einer Arbeitsrechtsreform verleiten, die Gewerkschaften, Schüler und Studenten zu Zehntausenden gegen ihn aufbrachte.
Die „Reform“ im Zeichen von „mehr arbeiten, weniger verdienen, leichter entlassen“ provozierte besonders junge Franzosen, die ihre ohnehin nicht rosigen Startchancen für ein angemessenes Arbeitsleben weiter schwinden s
chwinden sahen. Mit einer Konzession bei den befristeten Arbeitsverträgen brachte Premierminister Manuel Valls auch noch die Unternehmer gegen die Gesetzesnovellierung auf, konnte zugleich aber die Studenten mit Stipendienzusagen nicht zurückgewinnen.Keine AnführerFalls all das noch nicht reichte, wurde der satirische Dokumentarfilm Merci patron! von François Ruffin endgültig zur Initialzündung eines breiten Aufbegehrens. Der Streifen erreichte allein zwischen dem 24. Februar und dem 4. April eine Viertelmillion Kinobesucher. Der Regisseur wollte „die Menschen aus dem privaten Unter-sich-Sein“ herauslocken, was ihm prompt gelang. Zunächst in Paris, dann in 50 weiteren Städten entstand eine Protestbewegung von 18- bis 30-jährigen Arbeitslosen, Gewerkschaftern, Gymnasiasten, Praktikanten, Studenten, Wohnungslosen, Hausbesetzern, militanten Ökologen. Sie vereint die Gewissheit, dass keine Partei, keine Wahl, kein Parlament, keine Regierung und schon gar nicht die kapitalistische Wirtschafts- und Sozialordnung ihnen einen Zugang zu Bildung, Beruf, Wohnung und Lebenschancen verschaffen will und kann. Sie wehren sich, wie es Le Monde bündig formuliert, gegen „das prekäre Leben und eine unbewohnbare Welt“. Unter dem Label Nuit debout (nachts aufstehen) und mit Slogans wie „Wir waren eingeschlafen und wir erwachen“ sammeln sie sich seit der Großdemonstration vom 31. März Abend für Abend auf der Pariser Place de la République, feiern, tanzen und diskutieren bis in die Morgenstunden. Es gibt Zelte und improvisierte Unterstände. Gegen die Vermutung, es handle sich um ein bloßes Strohfeuer, das bald von selbst erlöschen werde, setzen die Akteure ihren politischen Willen und eine neue Zeitmessung: Sie zählten nach dem schönen Märztag einfach weiter, und so wurde aus dem 5. April der 36. März, aus dem 15. April der 46. März.Die Protestbewegung wird bisher in den französischen Medien aufmerksam verfolgt. Ein Smartphone-Filmer fand mit seinen Kurzfilmen in wenigen Tagen 80.000 Follower. In den Printmedien kam das Thema ebenso auf Seite eins wie bei Fernsehnachrichten auf den ersten Platz. Einzelne Politiker haben die Place de la République diskret besucht, aber keine Anführer vorgefunden, mit denen sie vor die Kameras treten konnten. Die neue Szene bewegt sich chaotisch zwischen Debatten und Abstimmungen in Vollversammlungen, Arbeitsgruppen, informellen Zirkeln – und ohne wahrnehmbare Hierarchien. Jede Anlehnung an Parteien oder gar die Regierung wird verworfen. Es geht darum, sich den öffentlichen Raum wieder anzueignen, der monatelang im Zeichen des Ausnahmezustandes von Polizei und Armee besetzt war. Einzig Schülervertretungen, die gut 100 Gymnasien landesweit blockieren und Lehrer wie Direktionen zu Diskussionen gezwungen haben, waren bereit zum Gespräch im Erziehungsministerium, das – in bewährter Taktik – durch seine Dialogbereitschaft die Wogen glätten und der Auflehnung den Wind aus den Segeln nehmen wollte.Aufschlussreich ist die Reaktion führender deutscher Medien. Mehr als zwei Wochen lang war die Protestwelle zunächst kein Thema. Am 11. April brach die FAZ das Schweigen unter dem Titel Wenn das Volk aufwacht. Der kurze Bericht ließ sich an Demagogie kaum überbieten. Unter einem Bild, das sechs vermummte und randalierende Chaoten („casseur“) zeigte, wurde suggeriert, die Protestler argumentierten und agierten vorwiegend mit Steinen und Krawall. Tatsache ist, dass es sich bei den abgebildeten Menschen um Mitglieder des polizeibekannten Mouvement Inter Luttes indépendant, einer Gruppe, die jede Demonstration für wirre Ziele zu instrumentalisieren sucht und mit den eigentlichen Protestlern nichts zu tun hat. In der Welt und dem Zürcher Tagesanzeiger geriet die Reflexion unter Überschriften wie Der letzte Dinosaurier zur platten Gewerkschaftsschelte und zum Plädoyer für die Arbeitsmarktreform der Regierung Hollande. Erst nach zwei Wochen umfangreicher, objektiver Berichterstattung in den französischen Medien kippte die Stimmung bei den deutschen Meinungsathleten.Keine WutbürgerFür die regierenden Sozialisten und ihren Präsidenten, den nach neuen Umfragen acht von zehn Franzosen als Bewerber für eine zweite Amtszeit ablehnen und nur noch sechs Prozent als Wunschkandidaten sehen, können die Proteste in dem Moment brandgefährlich werden, in dem sie sich auf die Vorstädte ausdehnen, wo Einwanderer aus Nordafrika ein Leben in immer erbärmlicheren Verhältnissen fristen.Für das politische System Frankreichs könnte das eine Ausnahmesituation heraufbeschwören wie im Herbst 2005, als nach dem Tod zweier Jugendlicher ein Aufstand der Banlieue wochenlang kaum zu beherrschen war. Der Schriftsteller Alexandre Jardin hat darauf verwiesen, auf welch unsicherem Fundament sich derzeit Sozialisten und Konservative bewegen. Parti Socialiste und Les Républicains vereinigten „weniger aktive Mitglieder als die französische Föderation der Boulespieler oder als der Verband der Kanu- und Kajakfahrer“. Laut Umfragen wünschen sich 78 Prozent der Franzosen einen Präsidentschaftskandidaten, der keiner Partei angehört. Ob die Bewegung Nuit debout das Potenzial hat, zu einer neuen linken Kraft zu werden wie Podemos in Spanien, ist völlig offen.Die Pariser Polizei hat das Protestlager an der Place de la République in der Nacht zum 11. April geräumt und sich den Ruf eingehandelt: „Wir werden wiederkommen.“ Was auch geschah. Dabei steht das „Wir“ in diesem Fall nicht für rechts und schon gar nicht für Wutbürger aus einer zusehends ungehaltenen Mitte der Gesellschaft, sondern für links, Solidarität und Antikapitalismus. Es missbilligt den Verrat der regierenden Sozialisten an linken Idealen.