Unfassbar!

Medientagebuch „Bild“-Report zur Griechen-Krise bekommt einen Journalistenpreis für "exzellenten Wirtschaftsjournalismus". Zählt differenzierte Berichterstattung gar nichts mehr?

Was eint Roland Tichy, Chef­redakteur der Wirtschafts­woche, Helmut Reitze, Intendant des Hessischen Rundfunks, Stephan-Andreas Casdorff, Chef­redakteur des Tagesspiegel, und Kai Diekmann, Chefredakteur von Bild? Alle vier sind überzeugt, dass es sich bei den Veröffentlichungen von Bild zur Griechenland- und Euro-Krise um „exzellenten Wirtschaftsjournalismus“ handelt. Tichy, Reitze und Casdorff zeichneten als Juroren der Quandt-­Stiftung eine fünfteilige Bild-Serie aus.

Sie taten dies im Bewusstsein – ihre Naivität ist zu gering, ihre kritische Analysekapazität zu ausgeprägt, um es nicht zu wissen – dass die „ausgezeichnete“ Serie Geheimakte Griechenland – der große BILD-Report untrennbar mit der Kampagne von Bild im ersten Halbjahr 2010 verbunden ist. Im Gewande des Journalismus penetrierte diese Kampagne über Monate die Öffentlichkeit mit der Botschaft: Die Griechen haben betrogen, leben über ihre Verhältnisse, sind faul. Die Griechen haben deshalb vom deutschen Steuerzahler keinen Cent Hilfe verdient.

Nun zeigen Casdorff, Reitze und Tichy, dass in Spitzen-Köpfen des Journalismus ziemlich viel Bild steckt. Allerdings herrscht bei diesem Thema bereits seit Monaten Boulevard getriebene Kommunikation, wirbelt der Bodensatz primi­tiver Interpretationsmuster ohnehin ständig nach oben. Trotzdem: Wenige Qualitätsmedien mühen sich ab, dem sehr starken Stereotypen-Mainstream Differenziertes entgegenzusetzen. Wieder einmal lassen die öffentlich-rechtlichen Nachrichten- und Dis­kussionssendungen sie dabei im Stich.

Krakeeler dominieren

Beispiele? Im Handelsblatt, der Süddeutschen Zeitung, der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung ist zu finden, was das Sparen für Griechen bedeutet: mehrere Steuern erhöht, steigende Preise und die bereits geringen Gehälter und Renten um bis zu 15 Prozent gekürzt; eine beamtete Lehrerin verdient 1.000 Euro im Monat. Und diese Medien vergleichen auch: Von 2009 auf 2010 senkten die Griechen ihr Haushaltsdefizit von 15 auf 10 Prozent des Bruttoinlandsprodukts – dafür müssten die Deutschen 120 Milliarden Euro sparen.

Wenn Griechenland bis 2015 etwa 50 Milliarden Euro aus Privatisierungen erlösen soll, dann entspricht dies 500 Milliarden Euro in Deutschland. Medien wie die Frankfurter Rundschau erinnern daran, wie groß die Schuld der Finanzmärkte an dem Debakel ist und wie dubios, dass die demokratische Politik in beinahe hündischer Ergebenheit nach der Pfeife von drei interessen­gebundenen Ratingagenturen tanzt. Analysen darüber, was in diesen Monaten die Politik auf der einen und was die Deutsche Bank auf der anderen Seite zu sagen hat, sind allerdings auch in diesen Medien nicht zu finden.

Also: Dieser erklärende und differenziert informierende Journalismus ist zu finden – von dem, der ihn sucht und der weiß, wo es ihn gibt. Aber: Er prägt nicht das Bild, er ist Nische.

Dabei müssten solche Informationen, Vergleiche, Erklärungen, die so vor­züglich Ressentiments aufzusaugen und abzuwehren vermögen, im Mittelpunkt stehen, das Publikum müsste auf sie gestoßen werden und über sie stolpern. Stattdessen bleiben die Krakeeler stärker, weil sie das bewusst nicht machen, was die sehr wenigen anderen auszeichnet: Differenzieren.



Wolfgang Storz ist mit Hans-Jürgen Arlt Autor der von der Otto-Brenner-Stiftung (OBS) in Auftrag gegebenen

Bild-Studie

, in der es detailliert um die Griechenland-Berichterstattung von Springers Blatt geht. Die OBS hat die Juroren der Quandt-Stiftung zu einer öffentlichen Diskussion eingeladen


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