Das ist keine Krise mehr, das ist ein Krieg in den palästinensischen Autonomie-Gebieten. Und die US-Administration sieht nicht nur tatenlos zu, sondern führt im Hintergrund kräftig Regie. Was Bush und sein Vasall Sharon derzeit im Nahen Osten veranstalten, erscheint zusehends als Teil einer weltweiten "anti-terroristischen Aufräumstrategie" und Vorspiel für einen neuen Golf-Krieg. Vor einer Konfrontation mit dem Irak wollen die USA offenbar alles vermeiden, was Israel als Allianzpartner vor den Kopf stoßen könnte.
Die Gesten der Trauernden spiegeln Verzweiflung und brennende Wut. Ratlosigkeit grassiert angesichts der flashartig explodierenden Bilder der Toten und Verletzten in Palästina und Israel, angesichts der zerstörten Gebäude, der geb
#228;ude, der geborstenen Straßen, der zerstörten Gesichter. Wie kann der unaufhaltsam erscheinenden Erosion der Vernunft in der Konfrontation zwischen Israelis und Palästinensern Einhalt geboten werden? Seit anderthalb Jahren, seit dem provozierenden Marsch Ariel Sharons auf den Tempelberg - dem Beginn der "Al Aqsa Intifada" im September 2000 - tobt im Gazastreifen und in der Westbank ein entfesselter Kampf, in dem es kaum noch Unterschiede zwischen Soldaten und Zivilisten gibt - in dem die Fronten immer dort auftauchen, wo gerade gestorben wird. Wie bei fast allen Kriegen der jüngsten Zeit erleben wir keinen Gewaltkonflikt zwischen Staaten, sondern zwischen einem Staat und einer politischen, nichtstaatlichen Interessenvertretung eines Volkes, das einen eigenen Staat will. Während eine Seite in der Gewähr von Sicherheit vor Angriffen auf die eigene Bevölkerung eine Legitimation für ihren "Krieg gegen den Terror" zu erkennen glaubt, nimmt die andere Ähnliches für sich in Anspruch, um sich gegen Fremdbestimmung, Besetzung und Staatsterror zu wehren. Längst kein neues Grundmuster eines Konfliktes mehr, wie uns der Kosovo, Osttimor oder - in abgeschwächter Form - auch Nordirland wissen lassen. Die Risiken für einen Interessenausgleich, die aus einer vorbedachten Eskalation erwachsen, sind den Protagonisten dabei mehr als alles andere geläufig: Für Palästina und Israel heißt das - nicht zum ersten Mal droht die Region in ein selbstmörderisches Chaos weg zu gleiten. Dennoch ist dieser Absturz heute gefährlicher als frühere Eskalationen dieser Art. Zum einen erfährt der Hass zwischen Israelis und Palästinensern inzwischen eine ethnisch wie religiös inspirierte Verengung, in deren Folge der Wille zum Kompromiss mit einem Partner dem Willen zur völligen Verdrängung des Gegners gewichen ist. Auch wenn plausible Vorschläge zur Deeskalation noch immer vorliegen, niemand will - und wie es scheint - niemand kann sie mehr durchsetzen. Während in der Vergangenheit Kompromisse durch Verhandlungen erst noch auszuloten waren, scheinen die Verhandlungsspielräume nun a priori aufgebraucht. Schlimmer noch: Das Scheitern des bisherigen Friedensprozesses hat das Vertrauen auf beiden Seiten zerstört. Niemand glaubt mehr, die jeweils andere Seite könnte ernsthaft bereit sein, Vertragstexte - welcher Art auch immer - zu respektieren. In solcher Lage haben radikale Kräfte vergleichsweise leichtes Spiel. Jede Provokation, jeder Gewaltakt ermöglicht es ihnen, schon den Ansatz eines realistischen Kompromisses zu diskreditieren. Selbst wenn die Vernunft es eigentlich gebieten sollte, die Sinnlosigkeit eines Konzepts zu erkennen, dass die Niederlage der einen Seite zur Bedingung für den Sieg der anderen erhebt, schwingt das Pendel zwischen Gewalt und Gegengewalt immer kräftiger aus. Die Frontlinien dieses Krieges verlaufen aber nicht nur zwischen Israelis und Palästinensern. In beiden "Lagern" tobt eine veritable Bataille um Teilhabe an der Macht. Die Palästinensische Autorität, deren Bildung und Anerkennung durch Israel eng mit der 1993 von Arafat abgegebenen Gewaltverzichtserklärung verknüpft war, kann sich kaum mehr auf vorbehaltlosen Rückhalt in der palästinensischen Community stützen. Die Achtung des Existenzrechtes Israels beispielsweise wird nicht nur durch Anhänger der Hamas und des Islamischen Jihad verweigert - sie ist durchaus auch in Teilen der Fatah umstritten. So berechtigt die Forderung nach konsequenter Strafverfolgung von Gewalttätern in den Gebieten der Palästinensischen Autorität sein mag, so wenig ist sie - ohne tatsächlich vorhandene staatliche Zentralgewalt - imstande, das Geflecht bewaffneter Strukturen auch nur halbwegs zu kontrollieren. Die extrem geschwächte und durch die Boykottpolitik Sharons zusätzlich belastete Position Arafats gibt darüber hinaus der Rivalität um seine Nachfolge Auftrieb, wobei islamistische Strömungen erkennbar an Einfluss gewinnen. Die Akzeptanz von Gewalt gegen Israel nimmt zu, gleichzeitig wächst die Abhängigkeit des politischen Schicksals Arafats und moderater PLO-Führer von Gruppen, die in der Bevölkerung - vorrangig in den Flüchtlingscamps - gerade wegen ihrer Gewaltbereitschaft auf breite Sympathie stoßen. Auch in Israel ist die Stimmung kollabiert. Nach dem Camp-David-Gipfel im August 2000, dessen Scheitern der damalige Premier Ehud Barak der angeblich fehlenden Kompromissbereitschaft Arafats anzulasten vermochte, gelang es einer rigiden politischen Orthodoxie, die Horrorvision von einer Rückkehr Hunderttausender palästinensischer Refugees nach Israel zu beschwören. Damit war für das Gros der Israelis jede völkerrechtliche Regelung mit den Palästinensern obsolet. Die Selbstmordattentate gegen zivile und militärische Ziele in Israel verstärkten zudem den Eindruck, die PLO wolle unverändert den Staat Israel von der Landkarte tilgen. Kräfte des Augleichs, wie Shimon Peres, drifteten als Diener zu vieler Herren ins Abseits. Umfragen bestätigen eine unverkennbare Popularität der Revanche-Taktik Sharons - der politische Mainstream in Israel hat sich auffallend radikalisiert . Auswege sind kaum zu erkennen, solange die Amerikaner kein Interesse an einer Deeskalation haben. Doch können Anstöße von Außen überhaupt etwas bewirken, solange die Bereitschaft der Konfliktparteien gegen Null tendiert, sich aus dem Teufelskreis von Schlag und Gegenschlag zu lösen? Ohne Kompromiss in den Kernzonen des Konflikts - den jüdischen Siedlungen in den besetzten palästinensischen Gebieten, der Zukunft der fast vier Millionen palästinensischen Flüchtlinge und dem künftigen Status Jerusalems - wird es nicht gehen. Aber es ist nicht einmal mehr klar, ob Lösungen für nur einen der drei Streitpunkte noch denkbar sind. Das Dilemma: Während die einen Fortschritte in den Kernfragen voraussetzen, um die Gewalt überhaupt erst einmal einzudämmen, schließen die anderen auch das aus, so lange die Gewalt anhält. Externe Druckmittel, der Eskalation zu begegnen, sind demzufolge in ihrer Wirkung begrenzt. Der EU-Dialog mit Arafat übt keinen mäßigenden Einfluss auf Israel mehr aus, seit Sharon offenbar Verhandlungen verweigert, solange Arafat noch im Amt ist. Zugleich wird auf palästinensischer Seite die Haltung der USA als ausgesprochen parteiisch wahrgenommen, so sehr in Washington auch die pro-israelische Option bestritten werden mag. Im "Mehrfrontenkrieg" gegen das "Böse" dieser Welt will die Bush-Regierung vor einer drohenden Konfrontation mit dem Irak offenbar alles vermeiden, was Israel als Allianzpartner vor den Kopf stoßen könnte. Kurzschlüssige Prioritäten, die der Kriegsfurie Zeit und Raum geben. Allein sinnvoll wäre ein abgestimmtes Vorgehen Europas und Amerikas, um den gemäßigten Kräften auf beiden Seiten konsequent den Rücken zu stärken und den Scharfmachern jede Schützenhilfe zu verwehren. Doch das scheint vorerst nicht in Sicht. Professor Dr. Hans-Joachim Gießmann ist Stellvertretender Wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg.
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.