Unklarheiten im Überfluss

Medien Die Berichterstattung der ARD vom Amoklauf in München ist ein Paradebeispiel dafür, wie man aus Nichtwissen Nachrichten generiert
Ausgabe 30/2016
Hauptsache draufhalten. Ohne Echtzeitnachrichten ist Berichterstattung heute nicht mehr zu denken
Hauptsache draufhalten. Ohne Echtzeitnachrichten ist Berichterstattung heute nicht mehr zu denken

Foto: Joeg Koch/Getty Images

„Nichts zu sehr“ lautete eine der großen Weisheitssprüche der alten Griechen. Das Übermaßverbot ist in vielen Varianten oft wiederholt worden. Genutzt hat es selten. Zu erleben war ein Verstoß gegen dieses Gebot an jenem Abend, als in München ein Amokläufer acht junge Menschen erschossen hatte und das erste Deutsche Fernsehen (ARD) stun­denlang bis nach Mitternacht darüber berichtete. Das Medienereignis hatte schon schlecht angefangen, als der Moderator der bayrischen Vorabend-Nachrichtensendung ausführlich die ersten Bilder und Nachrichten von den Schüssen in oder am Olympia-Einkaufzentrum in München kommentierte. Es waren Schüsse gefallen. Wie viele war unklar. Aber irgendwann fielen keine mehr. Unklar war oder schien zu sein, ob bald wieder welche fallen würden. „München steht unter Beschuß“ verkündete der Moderator. Der Satz gefiel ihm so gut, dass er ihn wiederholte. „München steht unter Beschuß“. Damit verabschiedete er sich und jetzt übernahm das erste Programm. Fortan gab es hier nichts mehr sonst an diesem Abend. Andere Sender zogen zeitweilig mit, ließen aber auch noch andere Programmangebote zu. Nur die ARD blieb hartnäckig am Schußfeld.

Dabei hätte eine sorgfältige Beobachtung des Gebotenen die Programmverantwortlichen, davon überzeugen können, dass es hier kaum noch etwas zu berichten gab. Die traurigste Figur der Veranstaltung gab ein Reporter ab, den man in der Nähe des Olympia-Einkaufszentrums – tatsächlich in großem Abstand dazu – auf die Straße gestellt hatte, damit dieser berichte, was um ihn herum geschehe. Der arme Kerl konnte nichts dafür, was mit ihm gemacht wurde. Er wurde immer wieder der Sendung zugeschaltet. Thomas Roth in der Sendezentrale fragte ihn nach aufregenden Dingen, aber der Fernseh­zuschauer konnte nicht ignorieren, dass um den Reporter herum sich das blühende Leben abspielte. Autos und Radfahrer benutzten die Straße wie an jedem anderen Abend auch. Junge Frauen schlenderten paarweise an ihm vorbei, aber der Reporter musste in sein Mikrophon sprechen, was an diesem Abend in München geschah.

Das freilich konnte er nur wissen, wenn er in den kurzen Fristen zwischen den Zuschaltungen entweder in sein Auto ging, um den Polizeifunk zu hören, oder aber per Handy die Kollegen anrief, um sich von ihnen auf den neuesten Stand bringen zu lassen, vielleicht surfte er auch einfach im Internet. Das alles hätte man auch aus dem Studio in München oder Hamburg erledigen können. Im Studio in München hockte der Polizei-Reporter des Bayrischen Rundfunks, ein kluger Mann der Vernünftiges von sich gab. Indes, man hätte sich an diesem Abend einen Polizeireporter auch woanders als in einem Fernsehstudio vorstellen können. Dort schlug alsbald die Stunde der Experten. Es ist schon kurios, wer beim Fernsehen bei solcher Gelegenheit plötzlich als Terrorismus-Experte auftritt. Es gab auch andere Experten an diesem Abend. Vieles war möglich. Die Erwartung des Schlimmsten hielt sich mit allen Mittels am Leben.

Der Schriftsteller Manes Sperber hat einmal darüber nachgedacht, dass viele sich Krieg herbeiwünschen, weil sie sich von ihm die Überwindung des Alltags versprechen, den sie nicht mehr ertragen wollen. Der Philosoph Odo Marquard hat darauf geantwortet, man müsse eben den Alltag zur Ehren bringen, ihn als wünschenswert herausstellen. Journalisten wissen: Nur schlechte Nachrichten sind gute Nachrichten. Kriege sind langweilig geworden, seit sie asymetrische Kriege sind. Terroranschläge sind das, was heute den Alltag unterbricht: schrecklich für die, die dabei sind, aufregend aus der Ferne. Übrigens: Kanzlerin Angela Merkel meldete sich erst, als sie wußte, was in München los gewesen war. Richtig so.

Der Autor und Journalist Jürgen Busche schreibt in seiner Kolumne Unter der Woche regelmäßig über Politik und Gesellschaft

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