Unscharf

Politische Akteure Ob sich Saskia Sassens Migrations-Utopien auf Europa übertragen lassen, bleibt fraglich

Mittelschicht und politische Klasse sind in Deutschland synonym. Ökonomisch aber verliert die Mittelschicht an Bedeutung. Hat sie in den sechziger und siebziger Jahren noch die Städte als Zentren der Marktökonomie geprägt, so sind es jetzt die sogenannten "Urban Professionals" im 30. Stock der Bürohochhäuser einerseits, wie Saskia Sassen herausarbeitet, und eine wachsende Zahl von Migranten und Migrantinnen an der Basis global agierender Firmen andererseits. Die Soziologin, genaue Beobachterin, leuchtet die Ränder aus und entdeckt neue Agenten der Politik.

Saskia Sassen gibt den Marginalisierten und der über sie veröffentlichten Meinung Bedeutung im Weltgeschehen. Doch ist das nicht ein Blick, der an den Rändern reichlich unscharf wird? Und ist er auf Europa übertragbar?

Migranten und Migrantinnen könnten die neuen politischen Subjekte sein - das meint auch Birgit Beese vom Forschungsinstitut Arbeit Bildung Partizipation (FIAB) an der Universität Bochum. Fragt sich nur: wann in Deutschland? "Der Arbeitsmarkt für Deutsche, EU-Bürger und -Bürgerinnen und Zugewanderte mit festem Aufenthaltsstatus wird viel stärker abgeschottet als etwa in den USA, was aber inzwischen an Grenzen stößt." Unbestritten ist Migration Teil des Globalisierungsprozesses und lässt sich - "Autonomie der Migration" - mit nationalstaatlichen Instrumenten nicht mehr so eindämmen wie noch 1973. Migranten und Migrantinnen in Billiglohnjobs sind die Flexibilitätsressource, ihre Zahl wird zunehmen. Von daher hält es auch Birgit Beese für denkbar, dass sie sich Gehör verschaffen, wenngleich nicht im gleichen Maß wie in den USA, wo die Gewerkschaften gerade aus dem Niedriglohnsektor großen Zulauf bekommen haben. Denn gesellschaftlicher Ausschluss schränkt ein. Migranten und Migrantinnen in Großbritannien oder in Frankreich, die häufig aus den ehemaligen Kolonien stammen und die Landessprache sprechen, fällt es leichter, sich auch politisch zu artikulieren. Deutlichstes Beispiel sind die "sans papier" in Frankreich, die seit Jahren mit ihrem Kampf um Legalisierung in der Öffentlichkeit präsent sind. In Oberitalien gingen in diesem Frühjahr 30.000 Migranten und Migrantinnen auf die Straße und protestierten gegen eine Verschärfung der Einwanderungsgesetzgebung und für eine Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen. In Deutschland ist es die Organisation KanaK Attak, die darauf aufmerksam macht, welchen Anteil Migranten und Migrantinnen - historisch und bis heute - an der Durchführung von Arbeitskämpfen haben. Öffentlich ist dies kaum im Bewusstsein.

Birgit Beese hält Saskia Sassens Beschreibung der Migrantin als unterdrückter Ehefrau, deren Verantwortung die Familie ist, für stereotyp: "Eher eine Schablone der eigentlich differenzierten Geschlechterbeziehungen oder auch ein Vorurteil." Es gibt einen hohen Anteil von Frauen, die allein eingewandert sind oder allein wirtschaften. Zudem privilegieren Zuwanderungsgesetze Männer. Von den weltweiten Migrationsbewegungen erreicht nur ein Bruchteil die westlichen Industriestaaten, und 80 Prozent sind Männer.

Die Organisation des Alltags qualifizierte zwar für das Auftreten gegenüber Entscheidern, meint Birgit Beese, ist aber skeptisch, ob sich daraus ableiten lässt, dass auch in Deutschland Migrantinnen zu Trägerinnen einer neuen politischen Subjektivität werden. Die politischen und kulturellen Vorraussetzungen, vor denen sich soziale Bewegungen entwickeln können, seien eben andere in Europa. Allerdings: am 7. September 2002 demonstrierten für die Legalisierung der sans-papier in Frankreich mehr als 7.000 Menschen, ranghohe Vertreter von links-trotzkistischen Parteien und den Grünen sowie Gewerkschafter und Menschenrechtsorganisationen. Neue Koalitionen am Horizont? Saskia Sassen nimmt seismographische Bewegungen wahr und will unseren Blick schärfen - vielleicht gelingt ihr dies, trotz der Unschärfe an den Rändern ihres eigenen Blickfelds.

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