Wenn das Kino frei nach Shakespeare den "Stoff aus dem die Träume sind" liefert, dann bezieht sich das klassischerweise auf den Spielfilm Marke Hollywood. Zwei aktuelle Dokumentarfilme aus Deutschland und der Schweiz nehmen die Redewendung wörtlich. Sie kreisen um den "Stoff" und damit um Träume, die schnell und unausweichlich zu Alpträumen werden: Beide Filme handeln von Drogen und dem gnadenlosen Imperativ der Sucht. Und beide porträtieren mit ihren Geschichten von Sucht und Entzug auf unterschiedliche Weise auch einen Landstrich und seine Bevölkerung. Die Droge fungiert als Antrieb für eine gesellschaftliche Tiefenbohrung, bei der Schichten, Ablagerungen und Einschlüsse einer spezifischen Bevölkerung an ihrem Ort und in ihrer Zeit zum Vorsche
chein kommen lässt.Steigen wir mit der leichten, der legalen Droge ein. 30 Jahre lang und bis zu 50 Zigaretten am Tag hat der Schweizer Filmemacher Peter Liechti geraucht, aber nun soll der "bleischwere Kreislauf" durchbrochen, der "Dumpfheitsgenerator" ausgeschaltet werden. Hans im Glück - Drei Versuche das Rauchen loszuwerden ist das eigenwillige und verschrobene Videotagebuch dieses Entzugs, der in einer besonderen Methode besteht: "Laufen gegen das Rauchen" und zwar dahin, "wo alles angefangen hat", von seiner Wohnung in Zürich zu seinem Geburtsort St. Gallen. Wie einst der Schriftsteller Robert Walser, der wohl berühmteste Schweizer Spaziergänger, durchquert Liechti die Ostschweiz innerhalb von acht Tagen zu Fuß und "schweizert" dabei in bester Walserscher Manier vor sich hin, denn "seit das Rauchen kein Problem mehr ist, ist das Denken ein Problem". Sein gedankliches Hyperventilieren (von dem Schauspieler Hanspeter Müller als voice over gesprochen) ist oft mürrisch und launisch, denn "meine Sucht ist mein Krieg und den führ ich gegen alle hier".Alle hier sind die Menschen, denen er unterwegs absichtlich oder unabsichtlich begegnet: seine Eltern, Sepp, der Bauer, Anni Kruger, die 98-jährige Frau, die aufs Sterben wartet, Patienten in der Lungenkrebsabteilung, Postautofahrer, Touristen, Älpler. Und aus der anfänglich mürrischen Beschäftigungstherapie wird allmählich ein poetisches Suchen der "delikateren Realitäten", die das kalte Nikotin versperrt; ein Suchen, das seine Eigendynamik bekommt und ihm damit als Methode zur Falle gerät. Dreimal macht er sich innerhalb von zwei Jahren nach seinen Rückfällen wieder auf den Weg, auf drei verschiedenen Routen und fängt dabei ein so zufälliges wie authentisches Bild ein von einer Gegend und ihren Bewohnern. Das zeigt: die Biederkeit und Trostlosigkeit des zersiedelten Mittellandes, die Künstlichkeit eines touristischen Älplerfestes, aber auch den Charme und die Naturgewalt des bäurisch-bergigen Appenzell, das "das mentale Epizentrum" der Ostschweiz ist, wo die Menschen in einer eigentümlichen Mischung aus Tradition und Moderne leben, "wie Kinder die zu alt sind, um an den Osterhasen zu glauben, aber trotzdem Eier suchen gehen". Hans im Glück ist seinem Titel gemäß ein Märchen "von einem der auszog, das Rauchen loszuwerden" und einen wunderbaren Essayfilm gefunden hat, so dass man sich dabei ertappt, Peter Liechti noch manchen Rückfall zu wünschen, um von neuem diese skurrile Welt durchqueren zu können.In Helbra hingegen, einem kleinen Dorf im Mansfelder Land, hat die Schließung der Hütte 1990 eine Tradition gebrochen und in der arbeits- und planlosen Jugend einen verführerischen neuen Glauben geweckt - an das Heroin. Der gleichnamige Film von Mario Schneider, der selbst in Helbra aufgewachsen ist, erzählt von drei jungen Männern Anfang zwanzig und ihren Familien im gemeinsamen Kampf gegen eine Sucht, neben der sich Peter Liechtis Entzugswandern als harmlose Spielerei ausnimmt. Hier ist die als Fluchtpunkt ständig wiederkehrende Reise die Überlandfahrt mit dem Auto, während der man schon "völlig fixiert" nur an das eine denkt: Halle, Bahnhof, Heroin, und "der Moment, wo alles von einem abfällt". In ungemein offenen und ehrlichen Gesprächen erzählen Eltern und ihre Söhne über ihre Erfahrungen: Wie alles anfing und man es nicht wahrhaben wollte hier auf dem Dorf; wie man lernen musste, dem Kind, das man liebt, zu misstrauen; wie man sich als Sohn ein Netz aus Lügen aufbaute, aus dem es kein Entrinnen mehr gab - keine dramatischen Trips à la Trainspotting, sondern der nüchterne Alltag eines handfesten Kampfes.Husen wurde von seinen Eltern aus dem Haus geworfen, als diese die Sucht ihres Sohnes erkannt hatten und der Sohn die Mutter tätlich angegangen war, weil sie die silbernen Kügelchen mit dem Heroin ins Klo werfen wollte. Der Anblick Husens, der im Park verwahrloste, war jedoch noch weniger erträglich und so haben die Eltern den Jungen wieder aufgenommen und unterstützt - unter anderem mit einer minutiös geführten Buchhaltung über die Ausgaben für die Drogen. Nun hat Husen einen Entzug hinter sich und sucht eine Lehrstelle, aber die vergangene emotionale Belastung schwebt im familiären Raum und sorgt für Streit. Auch Michael ist unterdessen clean und verdingt sich als Hilfsarbeiter in Holland. In seiner Familie wird eine bedingungslose Liebe sichtbar, die alle zusammenhält und die Eltern dazu brachte, mit ihrem Sohn zuhause einen "kalten Entzug" durchzuführen, dessen Beschreibung zu den berührendsten Momenten des Films gehört. Markus hingegen ist kurz vor Drehbeginn rückfällig geworden und spricht seit einem halben Jahr nicht mehr mit seinem Vater. Er beschreibt, was auch bei den anderen zwei trotz Familienrückhalt, Entzug und stabilem Zustand drohend im Hintergrund lauert: die Möglichkeit eines erneuten Rückfalls, das Auftauchen des alten Gedankens "lass uns nach Halle fahren", denn "wenn du mich fragst, was ich für ein Ziel oder Traum habe, dann kann ich nur mit den Schulten zucken, dann ist da nicht viel".Helbra ist damit nicht nur ein Film über die Heroinsucht, sondern auch über ein ostdeutsches Dorf, dem mit der Wende und der Abwicklung der Hütte seine Identität abhanden gekommen ist. Wie ein Geist schwebt ein verlorenes Damals über den düsteren wie poetischen Landschaftsbildern und den älteren Menschen, die in ihren Schrebergärten mit glänzenden Augen das Bergwerkslied Glück auf anstimmen. Dass das stillgelegte Bergwerk ein Vakuum in der Dorfgemeinschaft hinterlassen hat, in der die Drogensucht erst gedeihen konnte, wie es der Film nahe legt, mag ein etwas zu simpler Schluss sein. In der Leere wird aber deutlich, wie der Jahrhunderte alte Bergbau die Dorfgemeinschaft mit Stärke und Unerschrockenheit ausgestattet hat, die ihr in der heutigen Zeit dazu verhilft, keinen zu verstoßen und den Kampf gegen die Drogen gemeinsam aufzunehmen. Glück auf klingt als Echo noch immer durchs Dorf.Hans im Glück ist in dieser Woche im fsk am Oranienplatz zu sehen. Helbra läuft außer in Berlin in mehreren ostdeutschen Städten: in Halle, Leipzig, Dresden, Boizenburg, oder Cottbus.
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