Das Café hat für den italienischen Schriftsteller Claudio Magris eine metaphorische Bedeutung. Es ist »eine Arche Noah, die für alle Platz hat«, ein Symbol des Pluralismus in seiner Region, der Diktaturen übelebte, jetzt aber vor seiner grössten Herausförderung steht, die sein Ende bedeuten könnte. Claudio Magris liebt Cafes, besonders das Triester Café San Marco, wo sein letztes Buch "Microcosmi" anfängt und wo wir uns trafen.
FREITAG: In der Geschichte Ihrer Region hat es noch nie so viele Grenzen gegeben und auch die Dämonisierung des Nachbarn war selten so groß. Was denken Sie darüber?
MAGRIS: Das ist die Chance und der Fluch der Grenzen. Manchmal hat man die Chance, dem anderen zu begegnen und zu fühlen, daß auch wir die anderen sind. Aber manchmal ist die Grenze eben auch die höchste Verhinderung des Austauschs. Die Grenzen faszinieren mich; nicht nur die Nationalgrenzen. Die Frage, ob man imstande ist, die Grenzen zu überschreiten, auch die sozialen Grenzen in seiner Stadt, ist die Frage unseres Lebens, auch psychologisch gesehen. Ich erinnere mich an ein Erlebnis nach dem Krieg. Da rückte die Grenze meines Landes ganz nah. Unmittelbar nach dem Krieg war diese Grenze der eiserne Vorhang. Hinter ihr begann Stalins Reich, das Dunkle, Unbekannte, Bedrohliche, Verachtete, eine Welt, die sich bis Vladivostok erstreckte. Andererseits habe ich diese Gebiete gut gekannt. Es waren Gebiete, die vorher zu Italien gehörten und mir vertraut waren. Diese Identität des Vertrauten und Unbekannten war für mich unglaublich wichtig. Ich hatte das Gefühl, daß ich geistig imstande sein sollte, diese Grenze zu überschreiten und in diese Welt - diese Gebiete, die hinter der Grenze existierten, die weder nur italienisch noch nur slowenisch sind - zu gelangen. Ich werde nie vergessen, was mir der polnische Nobelpreisträger Milosz erzählte: In Vilnius trafen sich in einem Café, 200 Meter vom Café entfernt, in dem er sich mit seinen Freunden traf, jüdische Dichter aus Litauen, die wirklich hervorragende Gedichte schrieben, die er aber erst 30 Jahre später in Paris, in der französischen Übersetzung, zum ersten Mal las. Das ist der Fluch der Grenzen. Es gibt immer eine Tendenz der Aufklärer, zu früh optimistisch zu sein und zu glauben, daß jahrhundertealte Ressentiments schon überholt sind.
Sind Sie ein Optimist? Die Cafés, die Sie als Symbol des liberalen Pluralismus beschreiben, geraten langsam aus der Mode. Gerät damit auch der mitteleuropäische Pluralismus aus der Mode?
Ich bin überhaupt kein Optimist, ich bin ein Pessimist. Ich glaube, daß die Weltgeschichte vor schrecklichen Jahren steht. Ich liebe nicht die selbstgefälligen apokalyptischen Pessimisten, die jeden Tag froh und stolz den Weltuntergang proklamieren. Wenn ich Cioran lese, bemerke ich, wie glücklich er in seinen nihilistischen Äußerungen ist, wobei das Tragische im Leben ist, daß das Leben eine Verflechtung aus Positivem und Negativem, Authentizität und Falschheit sowie Liebe und Krieg ist. Wäre das Leben nur Scheiße, wäre es, paradoxerweise, viel leichter. Ich glaube, daß wir uns in einer Welt zweier Gegensätze befinden, die zwar solidarisch zusammenarbeiten, doch beide in die falsche Richtung: Globalisierung und als Antwort die regressive Abkapselung in die kleine Identität. In diesem Sinne sollen die »Mikrokosmen« in meinem Buch das Gegenteil zum regressiven, barbarischen und idiotischen Lokalpatriotismus der Heimatländer abgeben, einem der regressivsten Phänomene der letzten Jahrzehnte. Lieber die großen Nationalismen, die ich hasse, als die kleinen. Lieber eine »La Grande Nation« wie von De Gaulle als die manische und zwanghafte Fixierung auf Triest, als ob die Welt in Muggia anfangen und in Monfalcone enden würde. Ich liebe die Eigentümlichkeit und die Differenzen, aber nur als Voraussetzung für das Gefühl der Menschlichkeit und der Universalität. Dante hat einmal gesagt: ich habe so lange das Wasser des Flusses Arno getrunken, bis ich gelernt habe, Florenz zu lieben, aber er fügt hinzu, daß wie das Meer für die Fische unsere Heimat die Welt ist. Wir müssen immer an zwei Fronten kämpfen: gegen die Verwischung und gegen die Idolatrie der Identität. Schon das, daß jeder zwei Eltern hat, ist Resultat einer Kontaminierung, einer unaufhebbaren Vermischung.
Ist diese Suche nach einer ethnischen Reinheit nicht ein Zeichen der selbstzerstörerischen Natur des Menschen? Es ist biologisch bewiesen, daß die absolute Reinheit des Blutes zur Degenerierung führt.
Ja, ich habe geschrieben, daß die absolute Reinheit nur die Null ist. Die Nationalitätenfrage hat mit der Moderne begonnen. Es wäre Unsinn, sich zu fragen, ob Kopernikus Pole oder Deutscher war. Jetzt gibt es die Angst vor der Globalisierung. Ich denke, daß es in der modernen Geschichte darum geht, daß wir gedacht haben, alle Widersprüche schon hinter uns gelassen und verdaut zu haben. Nach einer zu schnellen Verdauung folgen aber jetzt diese peristaltischen Bewegungen, als ob man sich übergeben würde. Sicher stehen wir von dieser neuen Idolatrie. Eine kulturelle Aufgabe wäre es, den Begriff des Staates und den Begriff der Nation nicht gleichzusetzen. Es ist unmöglich, daß jede nationale Gruppe eine territoriale Souveränität hat, und man darf auch nicht vergessen, daß die Eigentümlichkeit der Nationalitäten oft besser in den großen Vielvölkerstaaten oder Imperien geschützt waren als in den »Mikrokosmen« des Mittelalters. Die eigene Nationalität sollte man wie die eigene Familie betrachten: sicher liebe ich meine Familie mehr als meinen Staat, ich verlange aber keine Armee oder kein Gericht.
Wie sollte man dann die bedrohte Nationalität verteidigen?
Es gibt einen wunderschönen Satz von Milosz, dem ihn sein Onkel während eines schwierigen Moments für Polen sagte: »Wenn deine Nationalität bedroht ist, mußt du sie verteidigen, aber nur, wenn du erlaubst, daß diese notwendige Sorge dich total in Anspruch nimmt und deine Menschlichkeit total absorbiert.« Die Verteidigung wird damit zum höchsten und einzigen Wert des Lebens, was den geistigen Tod bedeutet. Deswegen sind die Gewalttätigen nicht nur für das Böse verantwortlich, das sie tun, sondern auch für das Böse, zu dem sie ihre Opfer zwingen. Es gibt aber auch einen anderen Weg. Meine Frau Marisa, die vor drei Jahren gestorben ist, erzählt in ihrem Buch »Verde Acqua» ihre Geschichte: sie war eine Italienerin aus der Stadt Rijeka, die heute zu Kroatien gehört, und wurde nach dem Krieg mit ihrer Familie aus ihrer Heimatstadt vertrieben. Obwohl sie danach sieben Jahre in einem Flüchtlingslager in Triest verbrachte, schrieb sie ihr Buch aus der epischen Perspektive eines Kindes, ohne jede politische Absicht oder Ablehnung. Durch die Geschichte einer unschuldig verfolgten Familie entdeckte sie sogar unbewußt ihre kroatischen und ungarischen Wurzeln und begann später, kroatisch zu lernen. Es ist ein Buch über die Selbstfindung, die das Gefühl des Zusammengehörens wiederfindet.
Einige beschreiben Mitteleuropa als einen Spiegel, der zerbrochen ist und den man nicht mehr zusammenkleben kann. Hat Mitteleuropa überhaupt eine Zukunft?
Die Frage ist, was die zwei verschiedenen Prozesse, Globalisierung und Zersplitterung, zusammen mit der Entwurzelung bringen. Der mitteleuropäische individualistische Humanismus, unser ironisches Gefühl für das Vielfältige, das als Widerstand gegen die sowjetische Herrschaft diente, und weswegen man den Eindruck hatte, man findet den europäischen Humanismus eher im Osten als im Westen, könnte zum ersten Mal bedroht sein zu verschwinden. Was die Diktaturen nicht schaffen konnten, könnte der kapitalistischen Globalisierung gelingen. Nichts wäre aber falscher, als dagegen anzukämpfen oder bestimmten politischen Formen der Vergangenheit, zum Beispiel der Donaumonarchie, nachzutrauern. Sie gehört der Geschichte an. Es wäre lächerlich, sie zu aktualisieren, so, wie es die Faschisten mit dem Römerreich vorhatten. Man sollte die Werte weiter vermitteln, ohne sie zu ideologisieren. Wenn man eine gewisse Stimmung ideologisiert oder anfangen würde, ins Café zu gehen, nicht, weil man es liebt, sondern nur um Nachfolger von jemandem zu sein, dann ist man verloren.
Nach Ihrem Buch »Donau« und anderen Geschichten aus Mitteleuropa sind sie mit »Der Welt en gros und en detail« zurück nach Triest und seiner unmittelbaren Umgebung gekehrt: das Café San Marco, der Volksgarten, die Lagune von Grado, das Dorf in Piemont, der slowenische Berg SnezÂnik und die kroatische Insel LosÂinj. Endet damit Ihre mitteleuropäische Ära, werden sie in Zukunft »Mikrokosmen» in Triest und seiner Umgebung suchen?
Ich weiß nicht. Meine erste literarische Bildung war nicht die mitteleuropäische Literatur, sondern Leopardi, Homer, Sterne, Tolstoj, Dostojewski, Flaubert, Baudelaire oder früher Hugo, aber es wäre mir selbst unmöglich auf die Dichter hinzuweisen, die mich geprägt haben, so groß und vielseitig ist Ihre Reihe. Dann kam mein großes Interesse für die mitteleuropäische Literatur, aber als unglaublich wichtige, leidenschaftlich geliebte, gründlich erforschte steht sie an zweiter Stelle. Wäre ich ein Moslem, wäre Mitteleuropa meine zweite Frau. Natürlich gehöre ich zu Mitteleuropa, das ist fast meine einzige Welt. Der Hafen von Triest dehnt sich weiter nach Slowenien und Kroatien aus: Die Grenze ist weniger von meinem Haus entfernt als die Vororte Mailands vom Domplatz. Ich denke aber nicht daran. Ich gehöre Mitteleuropa spontan an, so wie ich ein Mann und nicht eine Frau bin und dabei nicht an meine Männlichkeit denke. In diesem Sinne würde ich mich nie von diesem Mitteleuropa verabschieden. Es ist, trotz seiner Vielfältigkeit, auch eine gemeinsame Welt, die für mich verloren wäre, wenn diese Welt nur auf eine Nationalität reduziert wäre. Triest ohne slowenisches Gepräge würde nicht mein Triest, Istrien ohne italienisches Gepräge kein Istrien sein. Das ist meine Welt, die ich liebe, schimpfe oder hasse, wie mein eigenes Land.
Das Gespräch führte Gogala Viljem
Claudio Magris, 1939 geboren, ist Professor für deutsche Literatur in Triest. Im Januar 2000 erhält er den mit 50.000 Mark dotierten Würth-Preis für Europäische Literatur. Zuletzt erschien von ihm im Carl Hanser-Verlag, München, der Band Die Welt en gros und en detail.
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