Unsichtbar sein

Kehrseite II Sie redet jeden Tag mit Leuten, die sie noch nie gesehen hat. Sie tut so, als ob das ganz normal ist. Jeden Tag versucht sie aufs Neue mit ...

Sie redet jeden Tag mit Leuten, die sie noch nie gesehen hat. Sie tut so, als ob das ganz normal ist. Jeden Tag versucht sie aufs Neue mit wildfremden Menschen ein Gespräch anzufangen. Über Haarpflegemittel. Oder Lebensversicherungen. Oder Autos und Hundefutter. Und sie freut sich, wenn es klappt.

Annika sitzt mit ihrem Headset neben mir und reiht gerade auf der Tischplatte mit den Fingerspitzen ein paar zufriedene Dreivierteltakte aneinander. In Gedanken sitzt sie wahrscheinlich in der Royal Albert Hall vor einem weißen Flügel und spielt die letzten Noten eines sehr schwierigen Stücks und weiß, dass das Publikum sich gleich erheben und sie mit stehenden Ovationen feiern wird.

Annika hat soeben ein Interview beendet. Bereits ihr achtes, und das bedeutet, dass sie heute einen guten Tag hat. Das ist auch schön für mich, denn jetzt dreht sie sich zu mir und lächelt mir zu. Immer wenn sie das macht, muss ich tief Luft holen. Aber ich bin da nicht der Einzige, denn Annikas Augen haben eine Farbe, die es eigentlich nur auf Bildern van Goghs gibt. Und die werden in Museen streng bewacht. Ihr ganzes Gesicht scheint aus diesen Augen zu bestehen. Ich glaube, sie würden sogar noch auf Schwarz-Weiß-Photos leuchten.

Natürlich waren sie auch das Erste, worauf ich sie ansprach, als wir eine gemeinsame Zigarettenpause machten.

"Deine Augen", sagte ich. Weiter kam ich nicht.

"Ich weiß", sagte sie und sah auf den Boden. "Jeder will mir in die Augen schauen." Sie klang erschöpft.

"Tut mir leid", sagte ich, denn genau das hatte ich gerade getan.

Wir zogen an unseren Zigaretten und schwiegen.

"Was soll ich bloß machen?", sagte sie nach einer Weile. Sie sah noch immer auf den Boden. "Ich kann doch meine Augen nicht wie zu große Brüste unter einem Schlabberpulli verstecken. Oder den ganzen Tag eine Sonnenbrille tragen und erzählen, ich hätte diese seltene Lichtkrankheit, die auch Heino hat."

"Nein", sagte ich, und war plötzlich betrübt, dass sie so unwahrscheinlich blaue Augen hatte. "Nein, das ist wirklich keine Lösung."

"Mein letzter Job ist die reine Tortur gewesen", sagte sie. "Ich habe in einer Buchhandlung gearbeitet. Aber die Leute wollten überhaupt keine Bücher kaufen." Sie seufzte. "Sie sind nur gekommen, um sich meine Augen anzuschauen."

"Dann bist du hier, weil die Leute, mit denen du telefonierst, dich nicht sehen können?", fragte ich.

Sie nickte.

Seit diesem Gespräch ist eine Menge Zeit vergangen, und ihr Verhältnis zu ihren Augen hat sich merklich entspannt. Wenn wir uns unterhalten, sieht sie nicht mehr auf den Boden, und manchmal, wenn sie ein besonders langweiliges Telefoninterview zum x-ten Mal führt, erzählt sie mir mit diesen Augen nebenbei kirschkerngroße Geschichten. Man merkt, dass ihr die Arbeit Spaß macht. Die Menschen, mit denen sie täglich telefoniert, wissen gar nicht, warum sie eine so gut gelaunte Stimme hat. Sie halten diese Stimme wahrscheinlich einfach für einen Teil ihres Jobs. Ich glaube, sie würden ziemlich nervös werden, wenn sie wüssten, was für Augen sich hinter dieser Stimme verbergen. Aber sie haben glücklicherweise keine Ahnung davon. Annika kann in Ruhe Interviews führen und sich sicher sein, dass sie mit ihren Augen niemanden aus der Fassung bringt.

Trotzdem sind sie natürlich weiterhin vorhanden, man müsste blind sein, um sie zu übersehen, und es besteht jederzeit die Möglichkeit, dass sie mit ihnen auf der Straße einen Verkehrsstau oder Menschenauflauf verursacht. Aber das werde ich ihr nicht auf die Nase binden. Sie geht inzwischen so unbefangen und gelassen mit ihnen um. Es wäre schade, wenn sich daran etwas ändert.

Daniel Klaus ist 1972 in Wiesbaden geboren. Er war Stipendiat der Akademie der Künste und Preisträger des Walter-Serner-Preises. Seine Geschichten sind in Literaturzeitschriften, Zeitungen und im Rundfunk veröffentlicht.


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