Schimpfen über die Bürokratie ist so selbstverständlich wie Meckern über das Wetter - die Schildbürgerstreiche der deutschen Beamten werden angeprangert, absurde Maßnahmen der Europäischen Union belächelt.
Eine politische Kritik der Bürokratie allerdings fehlt fast vollständig. Jahrzehnte lang haben die Vertreter des neoliberalen Modells den "Bürokratieabbau" beschworen, doch hat am Ende eigentlich jemand die Rechnung aufgemacht? Gibt es heute weniger Bürokratie?
Tatsächlich hat der Apparat kaum an Einfluss verloren; er funktioniert nur anders. Diesen Wandel gilt es zu verstehen, denn weiterhin ist das Verhalten von Exekutive und Verwaltung von erheblicher Bedeutung für das tägliche Leben.
Die wesentlichste Verä
wesentlichste Veränderung ist, dass die Verwaltung ihre Bindung an die Ideologie des Gemeinwohls aufgegeben hat und nicht mehr vorrangig an der Lösung von Problemen orientiert ist. Der spezifische Terror der Bürokratie geht heute kaum noch von einer autoritären Bevormundung im Namen von Disziplin, Planerfüllung oder Wohlfahrt aus, sondern davon, dass der Staat sich in einer permanenten Krise einrichtet hat.Nun war auch die frühere Ausrichtung auf das Gemeinwohl oft nur bloße Rhetorik. Besonders deutlich zeigte sich dieses Missverhältnis in den Staaten des realexistierenden Sozialismus. Schon bald nach der russischen Revolution hatten die Anarchisten auf diese Diskrepanz hingewiesen. In den vierziger Jahren waren es Dissidenten wie Cornelius Castoriadis von der Gruppe "Sozialismus oder Barbarei" in Frankreich oder der in Deutschland damals viel gelesene Jugoslawe Milovan Djilas, welche die Bürokratie als "neue Klasse" entlarvten. Sie habe sich die Verfügungsgewalt über das kollektive Eigentum und den Produktionsprozess gesichert und damit Privilegien, meinten die Kritiker. Im Vergleich zu den Kapitalisten im Westen allerdings seien ihre Vertreter nach wie vor davon überzeugt, sie opferten sich auf für das Volk.Auch im Westen wurde Kritik laut: Hier kursierte die Rede von der "Herrschaft der Manager". Dabei ging es um die technokratische Arroganz der Nomenklatura in Wirtschaft und Staat, um den autoritären Gestus der "Experten". In der Nachkriegszeit wusste die Bürokratie alles besser: Hier muss ein Hochhaus hin, dort eine Autobahn, hier ein Atomkraftwerk, dort ein Stützpunkt der NATO. Die Neuen Sozialen Bewegungen der siebziger und achtziger Jahre waren auch ein Kampf gegen diesen Stil der Verwaltung. Die Friedens- und Ökobewegung prangerte die direkten Auswirkungen dieser Macht auf den einzelnen an: Ob ich verstehe, was bei der Atomspaltung tatsächlich vor sich geht, ist gleichgültig, ich habe das Recht, zu protestieren, weil die Strahlung meinen Körper treffen könnte. Allerdings deutete sich in den späten Siebzigern der Funktionswandel der Bürokratie bereits an. Im Buch Staatstheorie schrieb der französische Sozialist Nicos Poulantzas von 1978: "Man kann sagen, dass wir es weniger mit einem Staat zu tun haben, der die Auswirkungen der ökonomischen Krise nicht bewältigen kann, als vielmehr mit einem Staat, der es sich selbst zur Aufgabe macht, die schleichenden Krisen, die er nicht in den Griff bekommt, zu fördern". Poulantzas hat diese Behauptung damals nicht umfassend ausgeführt, doch seine Beispiele klingen höchst aktuell: Arbeitslosigkeit und Inflation. Fördert der Staat nun Arbeitslosigkeit und Inflation? Die Erfahrungen jener Bürger, die sich an der Suche nach Lösungen für die zahlreichen Krisen in Sachen Beschäftigung, Bildung, Klima oder Einwanderung beteiligen wollen, zeigen deutlich, dass Exekutive und Verwaltung in einer eigenen, teilweise "verrückt" anmutenden Logik agieren. Problemlösung besitzt keineswegs oberste Priorität. Bei einem Besuch in Israel vor drei Jahren ließ sich ein interessanter Fall beobachten. Um den zahlreichen Terroranschlägen auf israelischem Gebiet zu begegnen, versuchte die Verwaltung vor allem, die Mobilität der Palästinenser insgesamt zu beschränken. So musste die palästinensische Bevölkerung im Westjordanland für die Nutzung der Highways eine Genehmigung beantragen. Diese Autobahnen, muss man wissen, verlaufen nur zwischen den israelischen Siedlungen und auf ihnen kommt man ungleich schneller voran als auf den häufig kaputten Straßen des Autonomiegebietes. Die Behörde nun, die solche Zulassungen erteilen sollte, war zum einen chronisch unterbesetzt und zum anderen eigentlich nur über jene Highways zu erreichen. Hier zeigt sich exemplarisch, wie sich die Art der Herrschaft der Bürokratie verschoben hat: Legte sie früher durch ihre ständige Präsenz den Individuen ein regelrechtes Korsett an, das sie quasi totalitär einband, übt sie heute Kontrolle aus, indem sie etwa de facto nicht erreichbar ist. Erwarteten die Behörden ehedem ein botmäßiges Verhalten von den Bürgern, zerstören sie heute vielfach die Berechenbarkeit des alltäglichen Lebens. In Deutschland finden sich für diesen Wandel ebenfalls zahlreiche Beispiele. Die Agentur für Arbeit etwa sollte eigentlich vorrangig dazu dienen, den Personen, die sich bei ihr melden, einen Job zu vermitteln. Mittlerweile jedoch gibt es kaum noch Bemühungen in dieser Richtung. Die Mitarbeiter haben nur wenig Berührungspunkte mit der tatsächlichen Arbeitswelt und sind zu sinnvollen Beratungen häufig kaum in der Lage. De facto ist das auch nicht mehr ihre Aufgabe. Die Agentur für Arbeit überzieht die Empfänger von Arbeitslosengeld, besonders jene "auf Hartz IV", mit einem Netz von kleinen und größeren Kontrollen, sie ordnet Kürzungen und andere Sanktionen an, sie moralisiert bei Beratungen das Verhalten der Personen - kurz: sie greift auf eine Weise in das Leben ihrer Klientel ein, die auf die "Normalität" des Lebens zerstörerisch wirkt. Auf der Suche nach der Rationalität dieses Verhaltens könnte man mutmaßen, dass auf diese Weise die Empfänger von Arbeitslosengeld II schlicht aus dem System hinausgedrängt werden sollen. Doch da es oftmals keine Arbeitsplätze für diese Personen gibt, dient die Agentur hauptsächlich der Betreuung und Förderung der Krise, zu deren Lösung sie nichts beitragen kann oder will.Auch in den Kommunen zeigen die Behörden ein "verrücktes" Verhalten. Auf jeder städtischen Homepage ist zu lesen, die Beamten fungierten als Dienstleister für die Bürger. Und diese Dienstleistungen müssen nun auch von allen bezahlt werden. Obwohl es die Bürger sind, welche die Tätigkeit der Beamten mit ihren Steuern finanzieren, kostet plötzlich alles zusätzlich Geld, von der Meldebescheinigung über den Personalausweis bis zum Grundbucheintrag. Dabei sind die Kommunen wiederum "verrückte" Firmen: Die Dienstleistungen, die sie anbieten, werden von ihnen selbst angefragt - die Kommune ist es ja, die eine Meldebescheinigung fordert. Der Sinn ist längst abhanden gekommen. So dienen auch die zahlreicher gewordenen Kontrollen der Polizei nicht mehr der Reglementierung des Verhaltens, sondern als kommunale Einnahmequelle. Gerade bei ärmeren Bürgern können saftige Strafen für kleine Verkehrsvergehen auf Monate das Budget durcheinander bringen, also die "Normalität" verwüsten.Ein anderes Beispiel gibt das "Migrationsmanagement" in Europa - aus aktuellem Anlass geht der Blick nach Italien. Vor einiger Zeit patrouillierten in den Straßen von Rom Truppen der italienischen Armee. Sie sind unter anderem auf der Suche nach "illegalen" Einwanderern. Dabei wurden die Soldaten leicht fündig. Die meisten Migranten in Italien haben keine Papiere, obwohl ihre Arbeitskraft massiv nachgefragt wird. Die Einwanderungspolitik ist dabei gewissermaßen gewollt konzeptlos. Die Verwaltung drängt die Migranten förmlich in die "Illegalität", wobei sie den Unternehmen völlig machtlose Mitarbeiter liefert. Zugleich schürt sie bei der Bevölkerung die Angst vor der Unsicherheit, die scheinbar ausschließlich von den kriminellen Migranten ausgeht. Am Ende dann werden die Leute durch den Einsatz des Militärs sichtbar in den Ausnahmezustand versetzt - im Kampf gegen eine Situation, die der Staat selbst produziert hat und die leicht zu beheben wäre. Allerdings trifft die "verrückt" gewordene Macht der Bürokratie nicht alle gesellschaftlichen Schichten gleichermaßen. Man kann durchaus behaupten, dass "Normalität" längst wieder zum Klassenvorteil geworden ist. Wenn man das nötige Einkommen hat, wird der Ausnahmezustand sogar zum begehrenswerten Konsumgut - wie etwa die Olympischen Spiele bewiesen. Der Umbau ganzer Städte und die drakonischen Maßnahmen zur Gewährleistung der Sicherheit sind für die einen bloßer Nebeneffekt des spektakulären Genusses, für andere jedoch, für ärmere Bewohner der Austragungsorte bedeuteten sie ständige Störungen im Alltag oder sogar Zerstörung des Alltags - nicht nur in Beijing, sondern zuvor schon etwa in Barcelona sind die weniger Wohlhabenden aus dem Zentrum vertrieben worden.Von "Bürokratieabbau" jedenfalls kann keine Rede sein. Zwar zwingt die Bürokratie den Bürgern keine Norm mehr auf, doch in ihrer "verrückten" Variante wirkt sie nicht minder unerträglich. Das Ziel von Exekutive und Verwaltung ist nicht, Lösungen zu finden für die Krise, sondern die Krise ist Bestandteil der Herrschaft der Bürokratie.Mark Terkessidis, geboren 1966, lebt als freier Autor in Berlin und Köln. Zuletzt erschien von ihm (mit Tom Holert): Fliehkraft - Gesellschaft in Bewegung. Von Migranten und Touristen, Kiepenheuer Witsch, 2006.
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