Unter dem Putz die Mauer

Lauschangriff Vivaldi überdauert mehr als "Vier Jahreszeiten", und Gesualdo schrieb mörderische Madrigale: Was von italienischen Komponisten alles zu entdecken ist und wie man das interpretieren kann

Vivaldis Vater schnitt, bevor er Berufsviolinist wurde, anderen Leuten die Haare, Vivaldis Schwiegervater schneiderte Kleider. Die bürgerliche Musik existierte lange vor der bürgerlichen Gesellschaft. Außer Sonderfällen wie Gesualdo, dreifacher, nie bestrafter Mörder aus Eifersucht und Komponist chromatisch düsterer Madrigale von großer Schönheit, hat der Adel kaum nennenswerte Tonsetzer hervorgebracht. Barockmusik war made in Bourgeoisie; Antonio Vivaldi (1678-1741) verbrachte einen Großteil seines Arbeitslebens in Venedig, einer Insel früher bürgerlicher Kultur im Feudalismus.

Er war lang vergessen. Seine Vier Jahreszeiten, jene Sammlung unvergleichlich eleganter, den Wechsel der Natur in der Zeit musikalisch nachbildender Violinkonzerte, hat ihn vor dem Ruf eines sich nicht selten wiederholenden Vielschreibers nicht bewahrt. Seine Instrumentalmusik ist nicht allein bedeutend und war seinerzeit maßgeblich; sie ist, wie sich jetzt zeigt, nicht einmal der mitreißendste Teil seines Oeuvres.

Es gehört zur Normalität einer sich wandelnden Klassikbranche, dass die interessanten Produktionen von den Independents kommen. Die französische Firma Naive ist das Label der Stunde mit einer Edition, die den Opernkomponisten Vivaldi zutage fördert. Von den bis heute 49 in der Turiner Biblioteca Nazionale als Vivaldi-Opern identifizierten Partituren hat Naive bislang neun ediert und produziert.

Einige Etablierte – Sängerinnen wie Veronique Gens oder Sandrine Piau, Instrumentalisten wie der Oboist Hans-Peter Westermann, Dirigenten wie Rinaldo Alessandrini, Ensembles wie das Freiburger Barockorchester – mischen sich da mit hoch begabten Neulingen. Die jungen Sänger bewältigen die komplizierten, aberwitzig schwierigen Verzierungen und Koloraturen Vivaldis mit souveränem Sinn für das Theater und die Lyrik und Rage, die darin walten. Das französische Ensemble Matheus unter dem flamboyanten Dirigenten Jean-Christophe Spinosi macht in Trouvaillen wie Orlando furioso oder La fida ninfa vom ersten Ton an klar: Hier spielt ein weithin noch unbekanntes Kammerorchester hingerissen und präzis das schäumende Drama einer unterhaltsamen Barockopern-Kunst.

Spinosi und Naives Vivaldi-Edition (im Vetrieb des Indie-Rock-Spezialisten Indigo) sind Indiz für die offenbar kaum nachlassende Kraft historischer Aufführungspraxis, einmal erreichten Standards an Innovation immer neue Seiten hinzuzufügen. Die betonten Fortissimo-Noten der Matheus-Streicher donnern wie Paukenschläge auf Darmsaiten. Faszinierend leise und vieldeutig fahl, wirkt ihr Pianissimo-Dämmer zugleich atemberaubend präsent. Was man dank Karajan und anderen Oberflächenzauberern noch vor zwei Jahrzehnten unter Barockmusik verstanden hat, ist, verglichen mit diesem Vivaldi, wie glatter, rot gestrichener Putz, unter dem Musiker wie Spinosi nun die spröde Vielgestalt und Farbkraft einer barocken, von Wetter und Zeit gezeichneten Backsteinmauer freilegen.

Man könnte auch sagen: Ein Glück fürs Herz, ein Fest für müde Ohren!


Carlo GesualdoMadrigale Les Art Florissants, William Christie; HMF 4086887. Antonio Vivaldi Die vier Jahreszeiten Freiburger Barockorchester DHM / BMG 0547277384. Antonio Vivaldi Orlando furioso RV 728 Lemieux, Larmore, Cangemi u.a., Ensemble Matheus, Spinosi; Naive OP 30393. Antonio Vivaldi La fida ninfa RV 714 Piau, Cangemi, Jaroussky u.a., Ensemble Matheus Spinosi; Naive OP 30410. Concerti per fagotto e oboe Westermann, Azzolini, Sonatori de la Gioiosa Marca; Opus 111 OP 30379

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