Unterirdische Vulkane

RUMÄNIEN Zehn Jahre nach Ceausescu - Nationalismus als kollektive Ersatzidentität

Ende September war im rumänischen Fernsehen eine Sendung zum Thema "Homosexualität" angekündigt - die Mario-Tuca-Show, dafür bekannt, heiße Eisen anzupacken. Nun sollte keiner glauben, dass Tuca, der mit seinen Hosenträgern entfernt an Larry King erinnert, Homo sexuelle dazu eingeladen hätte. Niemand würde es im Karpatenland wagen, sich öffentlich zur Homosexualität zu bekennen. Anlass für die Sendung war die Forderung der EU an die rumänische Regierung, den Paragraphen, der Homosexualität unter Strafe stellt (wenn sie - wie es formuliert ist - ein "öffentliches Ärgernis" darstellt), zu liberalisieren. Tuca hatte also "Experten" gebeten: Zwei Politiker, einen Psychologen, einen Politologen und einen Priester der orthodoxen Kirche.

Die Runde mochte unverdächtig sein - das Thema war es nicht. Prompt war der Ton gestört, als Mario Tuca um 22 Uhr 30 auf dem Bildschirm erschien. Ein langer Werbeblock wurde eingeblendet, und erst mit einer Viertelstunde Verspätung konnte die Sendung beginnen. Er habe sich an technische Probleme schon gewöhnt, bemerkte Tuca lakonisch, sie träten immer dann auf, "wenn die Redaktion wieder ungehorsam war."

Was folgte, geriet zum Lehrstück über die rumänische Gesellschaft. Sowohl der Vertreter der bürgerlichen Regierung als auch die Vertreterin der ex-kommunistischen Opposition wollten keine Stellung zum Thema Homosexualität beziehen. Beide wussten schließlich sehr gut, ein Plädoyer für die Liberalisierung des Sexualstrafrechts würden die Wähler nicht honorieren. Also wurde die EU für eine Gesetzesänderung verantwortlich gemacht, die im Lande keiner will. Schon gar nicht der orthodoxe Priester, der die Unnatürlichkeit gleichgeschlechtlicher Liebe anprangerte. 2000 Jahre lang habe niemand über Homosexualität gesprochen, warum man denn heute dazu gezwungen sei? Den Einwand des Politologen, auch im Tierreich gebe es Homosexualität, und schon die alten Griechen hätten das Thema erörtert, konterte der Priester schlicht: In der Antike sei es aber nicht um gesetzliche Regelungen gegangen.

Sich auf 2000 Jahre Geschichte zu berufen, das ist in Rumänien beliebt und hat sich auch nach dem Sturz Ceausescus keineswegs erledigt. Der Nationalkommunist hatte die elementaren Bedürfnisse seines Volkes nicht befriedigt. Das nationalistische Bedürfnis befriedigte er. Schon sein Vorgänger Gheorghiu-Dej wies die sowjetischen Truppen aus dem Land. Und Ceausescus Weigerung, sich an der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 zu beteiligen, verdankte sich keiner etwaigen Sympathie mit den tschechoslowakischen Reformern. Damit verteidigte Ceausescu das Prinzip der staatlichen Souveränität gegen die Einmischung von außen - und sei es die der sozialistischen "Bruderländer".

Die Rumänen verweisen auf die Daker und Römer als ihren Ursprung, also auf eine 2000jährige Geschichte. Schließlich können sie auch die romanische Sprache ins Feld führen. Wer in Bulgarien war, hat allerdings von seinen dortigen Gesprächspartnern erfahren, dass die Rumänen vor 200 Jahren noch keine eigene Schriftsprache besessen, sondern Bulgarisch geschrieben hätten. Richtig ist, dass sich - aufgrund des Gebrauchs kyrillischer Schriftzeichen in der orthodoxen Kirche - die rumänische Sprache lange Zeit der kyrillischen Zeichen bediente.

Mag der Sozialismus auch verschwunden sein - der "kläglich gescheiterte" rumänische Alltag ist es nicht. Zermürbend sind die Erfahrungen mit einer aufgeblasenen Bürokratie, die effektive Verwaltungsleistungen verhindert. Das selbstherrliche Verhalten der Beamten spiegelt die feudale Willkür des untergegangenen kommunistischen Systems. Oft hilft nur Bestechung, um einen Vorgang überhaupt auf den Weg zu bringen. Es mangelt an demokratischen Strukturen ebenso wie an einem gesellschaftlichen Kodex. Wenn politische Klasse und Verwaltung korrupt sind, wird man sich nicht ausgerechnet auf dem freien Markt an Regeln halten. Vorteilsnahme und Betrug sind an der Tagesordnung, etwa der Verkauf unverkäuflicher, nämlich einem Restitutionsverfahren unterworfener Wohnungen. Wer ein solches Etablissement nichtsahnend erwirbt, erlebt eine böse Überraschung, wenn plötzlich der Alteigentümer vor der Tür steht.

Nicht zuletzt ist es Unsicherheit, die mit dem zäh verlaufenden Strukturwandel einhergeht. In einer konservativen Gesellschaft wie der rumänischen wiegt diese Unsicherheit um so schwerer. Mit der vagen Aussicht auf westlichen Wohlstand ist sie nicht zu bannen, zumal sich die Lebensbedingungen für die Mehrheit stetig verschlechtert haben. Der Nationalismus bietet sich dem seiner Identität beraubten Individuum als kollektive Ersatzidentität an - und mag er auch noch so abstrakt sein. Eher gereicht ihm die Abstraktion zum Vorteil, da er ja nicht an den konkreten Lebensbedingungen gemessen werden kann.

Vorgaben der EU-Kommission zu Gesetzesreformen wie im Falle des Homosexuellen-Paragraphen stoßen auf Unverständnis. Die wirtschaftlichen und sozialen Prozesse, die der Westen durchlaufen musste, um sein Sexualstrafrecht zu liberalisieren, hat die rumänische Gesellschaft allenfalls vor sich. So werden Forderungen des Westens nicht selten als Fremdbestimmung empfunden, zumal die politische Klasse feige genug ist, sich hinter den Bedingungen für einen EU-Beitritt zu verstecken.

Der Reichtum des Westens lockt - aber das Prinzip des gemeinsamen Binnenmarktes ist bis heute nicht verstanden worden. Anders ist nicht zu erklären, warum die Länder der Region weit davon entfernt sind, miteinander zu kooperieren. Mag die bulgarische Regierung, wie erst kürzlich, das Nachbarland im Norden auffordern, zusammen eine zweite Brücke über die Donau zu bauen - in Rumänien wird das ausschließlich als schlauer Versuch der Bulgaren gedeutet, sich bessere Verkehrswege nach Westen zu erschließen. Dass der Handel zwischen den beiden ebenfalls davon profitieren könnte, kommt niemandem in den Sinn. Jeder der Balkanstaaten bemüht sich gegeneinander, bevorzugter Verhandlungspartner der EU zu werden.

Der Nationalismus entspricht nicht nur einem Bedürfnis. Er verfolgt auch Zwecke, verspricht nicht nur scheinbare Superiorität über die Nachbarvölker, sondern auch über die Minderheiten im eigenen Land. Zu einem Skandal kam es jüngst anlässlich der Ausstrahlung eines Films über die ungarische Minderheit in Rumänien. In einer an schlie ßenden Debatte mit zwei Journalisten wurde der Streifen als Propaganda gebrandmarkt. Als ob die Ungarn auch heute noch derselben Repression ausgesetzt seien wie zu Ceausescus Zeiten, erregte man sich. Empörung rief hervor, dass der Film nicht nur von den befreundeten Franzosen (und aus EU-Kassen) finanziert wurde, sondern auch im Fernsehkanal TV 5, der in allen frankophonen Ländern zu empfangen ist, mehrfach gesendet wurde. Man verstieg sich gar zu der Auffassung, der Film erziele denselben Effekt wie bei der Kosovo-Berichterstattung, so dass sich die NATO am Ende berechtigt sehe, Rumänien zu bombardieren.

Diese Vorstellung belegt ebenso viel Hysterie, wie sie die verdrängte Brisanz des Konflikts offenbart. Bezeichnend jene auf der Straße befragte Frau, die sagte: "Bisher dachte ich, dass die Rumänen und die Ungarn sehr gut zusammenleben." Bisher - drohend schwingt in der Bemerkung mit: Wir können auch anders! So hat der Bürgermeister von Temeswar alle Parkbänke in den rumänischen Nationalfarben streichen lassen, eine Provokation für die ungarische Minderheit der Stadt.

Wie sollte das Verhältnis zwischen Mehrheit und Minderheit auch anders sein, wenn die verbreitete Meinung lautet, die Rumänen seien ein 2000jähriges Kulturvolk, während die Ungarn "erst" 800 Jahre später als "barbarisches Reitervolk" der Hunnen in die Region eingefallen seien.

Die Identität stiftende Ausgrenzung richtet sich nicht nur gegen Ungarn und Zigeuner, sondern auch gegen die wenigen im Land verbliebenen Juden. Der sozialdemokratische Spitzenpolitiker Petre Roman hat keine Chance, zum Präsidenten gewählt zu werden. Nicht, weil sein Vater nach dem Krieg die Securitate aufbaute, sondern weil er Jude ist. Der Dichter Mircea Dinescu steht jedenfalls sehr allein da, wenn er dem rumänischen Volk ("das ja keineswegs reinrassig ist") empfiehlt, mit der Wahl Romans Reife zu beweisen. Dabei geht es Dinescu nicht um Symbole. Er schätze Petre Roman als pragmatischen Politiker, äußerte er in einer Fernsehsendung. An Pragmatismus aber mangele es der politischen Klasse im Land entschieden.

Wer die von den Abrissbaggern Ceausescus nicht ereilten Altstadtviertel Bukarests durchstreift, hat sehr bald das Gefühl, sich in einem zu Stadtgröße aufgeblasenen Dorf zu befinden. Da bildet der Pferdekarren des Alteisen sammelnden Zigeuners, dem man begegnet, nur den pittoresken Hintergrund. Wenn Bukarest in der Zwischenkriegszeit als Klein-Paris bezeichnet wurde, war das nie mehr als ein Mythos. Das zu Wohlstand gekommene Bürgertum träumte den Traum der gelingenden Modernität. Aber das Versprechen machte nicht nur geographisch an den Stadtgrenzen halt, es war auch zeitlich - in die Vergangenheit und Zukunft - begrenzt. Die Strukturen feudaler Herrschaft, die ländliche Mentalität waren zu stark. Sie erlaubten die Herrschaft des Potentaten Ceausescu, dem seinerseits die bäuerliche Welt verhasst war. Er beraubte sie ihrer Autarkie und Solidarität. Die Kollektivierung trieb viele Bauern dazu, ihre eigene Ernte zu vernichten. So hat sich zwar die bäuerliche Mentalität bis heute erhalten, aber sie ist "bodenlos". Die traditionellen Werte wurden zerstört, der autoritäre Kommunismus vermochte keine neuen Werte an ihre Stelle zu setzen.

Aufstände wie in Polen und Ungarn oder Reformbestrebungen wie in der tschechoslowakischen KP konnte es in Rumänien nicht geben. So vollzog sich auch der Umsturz von 1989 als - blutige - Farce. Viele Todesopfer gab es in Bukarest unter Jugendlichen, die neugierig auf die Straße liefen, um zu erfahren, was vor sich geht. Eine Einheit der rumänischen Armee sollte den Angriff von angeblichen Terroristen abwehren und wurde auf den Bukarester Flugplatz befohlen. Eine andere Einheit verlegte man zu demselben Zweck aus dem Norden Rumäniens ebenfalls dorthin. Als die Soldaten auf dem Flugplatz landeten, kam es zu Feuergefechten zwischen beiden Truppenteilen. Die Verwirrung war perfekt - und vermutlich Absicht.

Die soziale und wirtschaftliche Misere ist vielfältig. Als im Herbst heftige Erdstöße aus der Türkei, Griechenland und Taiwan gemeldet wurden, befassten sich die rumänischen Medien auch mit der Bebengefahr im eigenen Land. Die meisten der zwischen den Kriegen und bis in die sechziger Jahre errichteten Häuser Bukarest seien nicht erdbebensicher. Vor allem mehrstöckige Gebäude würden bei einem Beben in der Stärke von 1977 (etwas mehr als 7 auf der Richterskala) unweigerlich zusammenstürzen. Nach dem nächsten Erdstoß, der noch vor dem Jahr 2010 erwartet wird, werde Bukarest ein Schlachtfeld sein. Notwendige Maßnahmen zur Stabilisierung der Gebäude bleiben aus. Es fehlt an Geld und der politischen Fähigkeit, rechtzeitig Vorsorge zu treffen. Unterirdische Vulkane bedrohen Rumänien, real und metaphorisch.

Während Ungarn seit 1990 mehr als 22 Milliarden Dollar an Auslandsinvestitionen angezogen hat, sind es für das größere Rumänien gerade einmal vier. "Ein Land der Behinderten", titelte die Zeitung Adevarul sarkastisch und veröffentlichte ein im Internet kursierendes Photo: "Vier unterernährte Kinder", lautete die Bildunterschrift, "teilen sich ein Bett im Behindertenheim in Gradinari, 30 Kilometer südöstlich von Bukarest, Mittwoch, 1. September 1999. Die Verwaltung des Heims, das 220 Kinder mit schweren Behinderungen beherbergt, war weder in der Lage die Angestelltengehälter der letzten fünf Monate noch die täglichen Nahrungsmittel zu bezahlen. Beleg der enormen Schwierigkeiten, die die ökonomischen Reformen in Rumänen begleiten."

An meinem letzten Abend in Bukarest werden im Fernsehen massive Preiserhöhungen für Strom, Telefon, Wasser und Eisenbahnfahrten angekündigt. Meine Gastgeber stehen unverzüglich auf und verschwinden in der Küche, um die Tiefkühltruhe vom Netz zu nehmen.

Rumänien 1989 bis 1999

Januar 1990

Von der Regierung der Nationalen Rettungsfront (FSN) mobilisierte Bergarbeiter aus dem Schiltal beenden in Bukarest Proteste wegen einer zu schleppenden Auflösung der KP und der Securitate gewaltsam.

Mai 1990

Mit 85 Prozent der Stimmen wird Ion Iliescu (FSN) zum Präsidenten gewählt - die zunächst mit über 10.000 angegebene Zahl der Opfer des Umsturzes vom Dezember 1989 wird auf 1.033 nach unten korrigiert.

März 1991

Rumänien wird in das Kreditprogramm des IWF aufgenommen.

April 1992

Spaltung der FSN in eine Partei der Sozialen Demokratie (PDSR) von Präsident Iliescu und eine Sozialdemokratische Union (USD) des Ex-Premiers Petre Roman.

Februar 1993

Assoziierungsabkommen mit der EU.

August 1995

Mit der Ausgabe von Eigentümerkupons an 17 Millionen Rumänen beginnt in einer äußerst desolaten Wirtschaftslage die entscheidende Privatisierungsetappe.

September 1996

Grundvertrag mit Ungarn, der eine gegenseitige Anerkennung der Grenzen ebenso festschreibt wie den Minderheiten-Status der in Rumänien lebenden ungarischen Bevölkerungsgruppe (1,7 Millionen).

November 1996

Die rechtsorientierte Allianz Demokratische Konvention gewinnt die Parlamentswahl und beendet damit vorerst die Ära postkommunistischer Regierungen.

November 1997

Iliescu unterliegt in der zweiten Runde der Präsidentenschaftswahl dem konservativen Bewerber Emil Constantinescu.

Dezember 1997

Obwohl Rumänien zunächst nicht zu den Beitrittskandidaten der EU gehört, hält Constantinescu an der Westintegration fest und lehnt eine regionale Sicherheitsarchitektur auf dem Balkan - befürwortet von Bulgarien und der BR Jugoslawien - ab.

Januar 1999

Ein erneuter Protestmarsch von Bergleuten aus dem Schiltal nach Bukarest wird von der Polizei unterbunden.

März bis Juli 1999

Während des NATO-Krieges gegen Serbien stellt sich Rumänien vorbehaltlos auf die Seite der westlichen Allianz.

November 1999

Wegen der fortgesetzten Subventionierung von Staatsunternehmen und ausbleibender Reformen droht der IWF, seine Kreditlinie für Rumänien zu kappen.

Dezember 1999

Auf dem EU-Gipfel von Helsinki wird Rumänien offiziell als Beitrittskandidat nominiert.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Die Vielfalt feiern – den Freitag schenken. Bewegte Zeiten fordern weise Geschenke. Mit dem Freitag schenken Sie Ihren Liebsten kluge Stimmen, neue Perspektiven und offene Debatten. Und sparen dabei 30%.

Print

Für 6 oder 12 Monate
inkl. hochwertiger Weihnachtsprämie

Jetzt sichern

Digital

Mit Gutscheinen für
1, 6 oder 12 Monate

Jetzt sichern

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden