Verrat ist eine eminent politische Kategorie. Leicht verwundert bemerkt Mathias Schreiber in seinem Essay, dass Verrat weder in der Liste der sieben Todsünden noch bei den Zehn Geboten auftaucht. Umgekehrt gilt auch die Treue weder als eine der christlichen noch als eine der antiken Kardinaltugenden wie Gerechtigkeit, Klugheit, Tapferkeit und Mäßigung. Zu unbestimmt und zu windig ist die Sache, um die es hier geht, zu ambivalent und abhängig von Kontexten.
Schreiber aber will den Verrat unter klar ethischen Gesichtspunkten untersuchen, allen zeitgenössischen Verharmlosungen zum Trotz und gegen Bernhard Schlink, der in einem Aufsatz behauptet hatte, die Zeiten der großen Loyalitäten und damit auch der großen Verratsgeschichten seien vorbei. Die Diagnos
ie Diagnose ist richtig, die lasche Bewertung aber falsch, meint Schreiber.Sein Essay spannt einen weiten Bogen, er enthält Definitionen des Verrats, eine Charakterkunde des Verräters, anthropologische und juristische Betrachtungen, moralische Apelle und sehr viele, oft nur kurz erzählte Verratsgeschichten. Das beginnt bei Susanne Albrecht, die den Freund ihrer Familie, Jürgen Ponto, an die RAF auslieferte; es geht um Stasi-Spitzel, den Fall Sascha Anderson etwa, und die Guillaume-Affäre, über die seinerzeit Willy Brandt als Kanzler stürzte.Beispiele aus der Zeit des Kalten Krieges nehmen einen breiten Raum ein, erwähnt werden aber auch die Mordpolitik der Nazis gegen angebliche „Volksverräter“ und die Auseinandersetzungen zwischen den linken Parteien der Weimarer Republik: „Wer hat uns verraten? Die Sozialdemokraten.“ Ältere kulturgeschichtliche Beispiele erstrecken sich vom Prometheus der griechischen Sagen über den biblischen Zedekia und Judas Iskariot bis hin zu Hagen von Tronje im Nibelungenlied. Das Namensregister ist lang, es enthält Überläufer, Konvertiten, Deserteure, Doppelagenten, und wenn Frauen im Spiel sind, so beschreibt er sie wahlweise als „attraktive und elegante Russin“ (Anna Chapman) oder als „charmant, schlagfertig und außerdem hübsch“ (Anne Boleyn). Den Verratstrick der Damen nennt er „Modell Honigfalle“.KulturkonservativismusInstruktiv für das Verständnis des Verräterischen ist das Kapitel „Treue als Bastion“, denn ohne den Gegenbegriff ist nicht zu verstehen, was am Verrat so kränkt und schädigt. „Die Verachtung des Verrats bezieht ihre Energie aus der Bindekraft der Treue“, so steht es bei Schreiber, der dieses „sittliche Pflichtverhältnis“ historisch-deutsch aus der mittelalterlichen „triuwe“ und dem Verhältnis der Untertanen zum Herrscher ableitet. Hier zeigt sich der heikle Punkt: Gemeinschaften werden immer über einen informellen Kern zusammengehalten, der selbst nichts ist als eine „Energie“, ein Magnetismus namens Loyalität. Verrat wechselt die Seiten, er ist der mehr oder weniger heimliche Bruch dieses informellen Vertrags zugunsten eines Dritten.Dass Verrat durchaus Gutes bewirken kann, sieht Schreiber, aber den Verräteran sich mag er nicht. Auch wenn die Whistleblower Julien Assange und Edward Snowden bei ihm eher glimpflich davonkommen, hält er den Vorwurf des Landesverrats für gerechtfertigt und den Verräter an sich für ein eher charakterloses, einsames, unglückliches Wesen. Von „Helden der Finsternis“ keine Spur.Insgesamt hätte es dem Verräter gutgetan, sich gründlicher auf Beschreibung und Analyse einzelner Geschichten einzulassen, statt eine Überzahl an Beispielen zusammenzukehren. In gewisser Weise ist das Buch, das doch eine Ethik liefern will, zu einseitig politisch grundiert. Als ehemaliger langjähriger FAZ- und Spiegel-Redakteur nennt Schreiber sich einen „konservativen Liberalen“, wobei im vorliegenden Essay das Konservative klar überwiegt. Es fällt auf, dass Schreiber Verratsfälle eher im linken Lager verortet, die DDR auch mal mit dem Zusatz „sogenannte“ charakterisiert und Spendenaffären der CDU bei ihm nicht vorkommen. Kulturkonservativ echauffiert er sich über den „digitalen Selbstverrat“ an die „Datenkrake Internet“ und über den Existenzialismus als Theorie selbstsüchtiger Verantwortungslosigkeit.Zum Schluss kippt Schreiber dann, besorgt über islamistischen Terror et cetera, in ein gnostisches Weltbild. Den Verrat verweist er ins Reich des Bösen. „Überall in den gut gefegten Sanatorien der Gesundbeter lauert das Satanische“, lautet das Finale. Bei allem Respekt, der dem Versuch gebührt, gegenüber verräterischer Beliebigkeit Rückgrat zu zeigen: Das Thema müsste klarer strukturiert, dafür aber ambivalenzfreundlicher behandelt werden.Placeholder infobox-2Placeholder infobox-1