„Urchristliche Handlungen“

Read and Meet In dieser Folge des „Freitag“-Community-Projekts sprechen die Blogger Calvani und Goedzak mit Matthias Politycki über den Laufsport
Ausgabe 51/2015

Warum Laufsport viel mehr ist als eine modische Freizeitbeschäftigung, erklärt der Schriftsteller Matthias Politycki in seinem aktuellen Buch 42,195 – Warum wir Marathon laufen und was wir dabei denken. Politycki joggt seit vielen Jahren und bestreitet auch Marathons. Zurzeit hat ihn das Crosstrail-Fieber gepackt: Beim Laufen ohne Streckenplan, auf Feldwegen, entdeckt er neue Landschaften hinter dem Horizont.

Calvani: Herr Politycki, wie ging das, wie wurde innerhalb weniger Jahre aus dem Laufen ein Lifestylespektakel?

Matthias Politycki: Das ist ja nicht zum ersten Mal passiert, denken Sie an die Popmusik.

Calvani: Aber wie?

Am Anfang der Kapitalisierung einer Idee steht immer ein Guru. Langlauf als Breitensport wurde zunächst von Einzelnen entdeckt, so wie Aerobic von … wie hieß sie? Cindy Crawford?

Goedzak: Jane Fonda.

Genau, die auch. Spätestens wenn die Sache dann in Insiderkreisen richtig abgeht, macht irgendwer einen Trend draus, den man vermarkten kann. Aber eigentlich interessiert mich derlei beim Thema Laufen nur am Rand.

Calvani: Wo tritt denn die Ökonomisierung zutage?

Sie beginnt bei der Selbstoptimierung des einzelnen Läufers und hört bei der Vermarktung von Volksläufen als Events noch lange nicht auf. Übrigens muss man auch den Marathon selbst „ökonomisch“ laufen, sonst bricht man irgendwann ein.

Calvani: Sie kritisieren sehr viel, und dabei bleibt es dann.

Eher: Ich begeistere mich für vieles, aber dabei bleibt es dann selten. Auch über viele Aspekte der Kommerzialisierung eines im Grunde einfachen Sports freue ich mich – ein Schuh, der bei Crossläufen wirklich Halt gibt, ist doch etwas Wunderbares! Davon hätte ich nur träumen können, als ich mit 16 die ersten Läufe querfeldein machte. Meine Marathonphase ist relativ jung. Viel wichtiger waren mir über Jahrzehnte Läufe welcher Länge auch immer, bei denen man Neues sehen konnte: Landschaften hinterm Horizont oder Rückseiten von Städten – als Läufer kommt man da einfach weiter als bei einem Spaziergang. Und dann gab es auch lange Phasen, in denen ich einfach nur Jogger war, weil mir Fußball oder Skifahren wichtiger war. Diese Vielfalt macht ja den Reichtum des Laufens aus.

Calvani: Mich hat überrascht, dass Sie das Laufen als etwas Soziales darstellen.

Auch unter Läufern gibt es einsame Wölfe; ich selbst gehöre zu denen, die einen Lauf unter Freunden vorziehen – eine Wochenendeinheit von 30 Kilometern wird durch gute Gespräche deutlich kürzer. Und wenn es richtig hart wird, läuft man ja nicht nur miteinander, sondern füreinander. Die Hilfsbereitschaft selbst gegenüber Wildfremden ist unter Läufern extrem hoch. Da kommt es auch bei Rennen zu „urchristlichen“ Handlungen, die einen fast wieder ans Gute im Menschen glauben lassen.

Zur Person

Matthias Politycki wurde 1965 in Karlsruhe geboren. Sein Debüt Aus Fälle / Zerlegung des Regenbogens (1987) begründete seinen Ruf als Nachfolger von Arno Schmidt. Der Romancier, Lyriker und Essayist zählt heute zu den renommiertesten Vertretern der deutschen Gegenwartsliteratur. Politycki lebt in Hamburg und München

Foto: Mathias Bothor/Photoselection

Calvani: Sie schreiben über Tugenden der Arbeiterklasse, die mich an meine Bergmannsfamilie erinnert haben.

Tugenden der Arbeiterklasse? Ich habe ein Kapitel über „alte deutsche Tugenden“ geschrieben, wie sie im Fußball immer mal wieder eingefordert und unter Läufern ganz selbstverständlich gelebt werden. Im Alltag vermisse ich diese Tugenden oft, da ist im Verlauf der vergangenen Jahrzehnte etwas in unserer Gesellschaft verloren gegangen. Unter extremen Anforderungen taucht es wieder auf, auch beim Bergsteigen oder bei Reisen in der sogenannten Dritten Welt, da wachsen wir Superindividualisten schnell wieder mit unseren Mitmenschen zusammen.

Calvani: Das klingt nach einem kleinen Paradies.

Was wir heutzutage als Toleranz ausgeben, ist de facto doch oft nur Gleichgültigkeit. Läufer sind alles andere als gleichgültig, was ihre Mit-Läufer betrifft, das ist der entscheidende Unterschied.

Calvani: Ich will das nicht romantisieren, denn es ist doch eher die gemeinsame Sache, die zusammenschweißt und neue Zwänge schafft.

Aber das sind selbstauferlegte Zwänge, die uns einen gemeinsamen Lauf doppelt genießen lassen! Nächste Woche bin ich zum Beispiel mit einem Läufer verabredet, den ich noch nie gesehen habe.Trotzdem bin ich mir sicher, dass er auf die Minute pünktlich sein wird. Verlässlichkeit verändert auch alles andere, weit übers Laufen hinaus.

Calvani: Sie schreiben, die Ordnung des Trainings sei ein Grund für Ihre Marathonläufe. Das Laufen bewahre einen vor den „Impulsgewittern unseres Alltags“. Funktioniert das auch bei einem 9-to-5-Job?

Die klare Strukturierung des Alltags über Monate hinaus ist nur einer der Punkte, die ich am Marathontraining schätze. Aber Sie haben recht, unter Läufern gibt es viele Freiberufler und Leute in gehobenen Positionen. Neulich erzählte mir ein Fliesenleger, dass seine Frau regelmäßig läuft, er selbst ist nach der Arbeit aber kaputt. So betrachtet, ist das Laufen schon Ausdruck einer Luxusgesellschaft.

Goedzak: Mich reizen die Themen Laufen und Marathon nicht, aber wie assoziativ Sie diese Themen mit anderen verknüpfen, hat mich angeregt.

Marathon eignet sich als Metapher, die fast auf jeden Lebensbereich anwendbar ist, übrigens auch aufs Schreiben.

Goedzak: Das birgt natürlich auch die Gefahr, nur an der Oberfläche zu kratzen. Sie beschreiben das Kämpfen gegen den Schmerz, den Sieg über sich selbst, als eine typische Attitüde der Moderne.

Nein, mit Schmerz oder Selbstüberwindung haben weder Moderne noch Postmoderne zu tun; in meiner Interpretation geht es allein um das unterschiedliche Tempo, in dem die Welt wahrgenommen und reflektiert wird.

Goedzak: Sie sagen, wer lange, „gerade“ Läufe macht, will nicht originell sein. Dann aber stellen Sie dem Flaneur als Typus der Moderne den Läufer als Typus der Postmoderne gegenüber.

Ich sage, und ich meine das natürlich metaphorisch: Wer lange genug geradeaus läuft, wird selbst gerade. Ein Läufer will eine Strecke in der für ihn bestmöglichen Zeit zurücklegen, da bleibt kein Raum für originelle Schlenker, alles muss effizient und geradlinig ineinandergreifen. Das ist eine Haltung, die man durchaus auch als Mensch oder als Schriftsteller einnehmen kann. Wenn ich von Postmoderne spreche, so grenze ich mich dabei gegen das rein Spielerische ab, das dem Begriff innewohnt.

Goedzak: Aber Sie gehen häufig auf Ambivalenzen ein, auch die zwischen Mann und Frau.

Eigentlich gehe ich eher darauf ein, wie sich die Ambivalenzen der klassischen Geschlechterrollen im Läuferalltag verwischen und teilweise sogar ins Gegenteil verkehren: Frauen nehmen als Marathonläufer „männliche“ Eigenschaften an, Männer „weibliche“ – das gesteigerte Ernährungsbewusstsein zählt dazu, die freiwilligen Arztbesuche und vieles mehr.

Goedzak: Sind das nicht Klischees von Weiblichkeit und Männlichkeit? Gibt es feministische Reaktionen auf das Buch?

Ein, zwei solcher Reaktionen gab es; erschrocken hat mich, dass dabei das, was irgendwelche Figuren des Buchs sagen, einfach als meine eigene Meinung unterstellt wird. Dabei ist auch 42,195 schon während seiner Entstehung von vielen Frauen begleitet und kritisch gelesen worden.

Goedzak: Sie schreiben, dass beim Extremsport Schönheit verloren geht. Der Verlust an patriarchalischer Anmut ist für mich so gar kein Problem.

Eine „patriarchalische Anmut“ kommt bei Schiller nicht vor, und auch sonst habe ich nie davon gehört. Der Laufsport als Ganzes ist voller Anmut, auch voller Erotik, wenn man an die entsprechende Werbung denkt. In der Realität findet man das eine wie das andre überall dort, wo gejoggt wird. Bei einem Marathon hingegen bleibt für derlei wenig Raum. Der legendäre Emil Zátopek wurde für seinen Laufstil sogar in den Medien verspottet. Worauf er konterte, er habe keine Zeit, um auch noch zu trainieren, beim Laufen gut auszusehen.

Goedzak: Ist das nicht ein enger Schönheitsbegriff? Kann sich ein Marathonläufer nicht in eine Frau verlieben, weil sie beim Marathonlauf nicht schön aussieht?

Ob sich ein Mann ausgerechnet während eines Marathons verlieben kann, wage ich nicht zu beantworten. Aus eigener Erfahrung weiß ich jedoch, dass sich Körper, Geist und Gemüt im Verlauf eines Marathontrainings verändern, erst recht im Lauf eines Marathonläuferlebens – ein weites Feld, auch unter zwischengeschlechtlicher Perspektive.

Calvani: Es gibt einige Stellen im Buch, die arg populistisch wirken, das Kapitel „Jüdisches Poker“ zum Beispiel. Hätte es nicht eine schlitzohrige christliche Geschichte gegeben, die neben dieser hätte stehen können?

Die Geschichte heißt Jüdisch Poker und ist von Ephraim Kishon, ich habe sie schon als Jugendlicher geliebt. Wenn ich stattdessen eine christliche Geschichte genommen hätte – die es freilich mit dieser Pointenstaffette, wie sie so wunderbar auf Marathonangeberei angewandt werden kann, gar nicht gibt –, hätten Sie mir da vielleicht eine Diskriminierung aller anderen Glaubensrichtungen vorgeworfen?

Calvani: Ähnlich verhält es sich mit den „radikaleren Kulturen“. Mir leuchtet nicht ein, warum Sie am Schluss diese Pointe setzen.

Sind Sie schon mal im arabischen Raum gereist?

Calvani: Mal eine Pauschalreise, aber dabei habe ich wenig Nichttouristisches gesehen und erlebt.

Das Nichttouristische ist in diesem Zusammenhang entscheidend. Nur so viel: Destruktive Energien können durch Laufen kanalisiert werden. Nach einem Lauf ist jeder von uns ein besserer Mensch, zumindest eine Zeit lang.

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