Als angekündigt wurde, in der Volksbühne Berlin würde Wladimir Majakowskis "heroisches, episches und satirisches Abbild unseres Welttheaters in sechs Aufzügen", Mysterium buffo, durch Sebastian Hartmann neu inszeniert, konnte es scheinen, dieses Theater besinne sich nach der Gottsuche bei Dostojewski, dem Kokainrausch bei Pitigrilli und der Abhaltung einer öffentlichen Betstunde doch wieder einmal auf seine ursprüngliche Herkunft aus der Arbeiterbewegung, die ihr Ziel in der Errichtung eines irdischen Paradieses sah.
Für diese konkrete Utopie gab es in der Tat keine kühnere dramatische Hyperbel als Mysterium buffo, das am ersten Jahrestag der sozialistischen Oktoberrevolution im Petrograder Musikdramatischen Theater in der Regie von Wsewolod Meyerhold
e von Wsewolod Meyerhold und Majakowski selbst, in von ihm entworfenen Kostümen und von Malewitsch gestalteten Dekorationen uraufgeführt wurde. In "realistischer Phantastik" wurde gezeigt, wie sich sieben Paare "Reiner" und ebensoviele Paare "Unreiner" vor der Sintflut, Sinnbild für die hereinbrechende Weltrevolution, auf eine neue Arche retten, die "Unreinen" sich schließlich des Betrugs von absolutistischer wie demokratischer Herrschaft entledigen und sich weder durch Schrecken der Hölle noch durch schöne Vertröstungen im Himmel davon abhalten lassen, sich im "Land der Trümmer" als ihre eigenen Herren einzurichten.Mysterium buffo wurde zum Manifest des "Theateroktober", den Meyerhold in Ableitung aus der politischen Oktoberrevolution 1920 ausrief. Sein Kern war, im Prolog bestimmt, die Schlüsselloch-Perspektive durch die "vierte Wand" der Guckkastenbühne zu zerstören und statt zuzusehen, wie "ein fremdes Leben im Stück sich zerstückelt", die Bühne zur Welt-Tribüne zu machen und die Massen statt Ein- und Mitfühlung zu revolutionärem Bewusstsein und Handeln anzuregen. "Mysterium - das ist das Große an der Revolution, buffo - das Lächerliche an ihr", erläuterte Majakoswki das Stück.Für eine Aufführung zwei Jahre später in der Arena des Moskauer Staatszirkus fasste er das Stück neu und sagte voraus: "Heute drängt stürmisch der Wille von Millionen zur Kommune, und in einem halben Hundert Jahre werden vielleicht die Großflugschiffe der Kommune sich in den Raum werfen - zum Sturm auf andere Planeten". "Künftigen Schauspielern, Inszenierern, Rezitatoren und Herausgebern des Mysterium buffo" gab er die Lizenz: "Ändert jeweils seinen Inhalt, macht den Inhalt zeitgemäß, heutig, minutengerecht!"Als die scheinbar zum Greifen nahe Weltrevolution fehlschlug und durch die Losung "Aufbau des Sozialismus in einem Land" ersetzt werden musste, verlor die dramatische Hyperbel für die Selbstbefreiung der "Unterdrückten aller Länder" ihre mitreißende Attraktivität. Seine Satiren auf sich sozialistisch ausgebendes Spießertum, Die Wanze und Das Schwitzbad, musste Majakowski bereits wieder in das Prokrustesbett der "Guckkastenbühne" und ihrer Sehgewohnheiten pressen. Wenn er sich 1930 eine Kugel ins Herz schoss, so sicher nicht nur wegen seiner fatalen Liebe zur Schauspielerin Lilja Brik, sondern wegen seiner revolutionären Ungeduld über den "langen Marsch", wenn nicht sogar Krebsgang des "real existierenden Sozialismus".In der Volksbühne Berlin, in der die jetzige Neuinszenierung erfolgt, versuchte Helmut Baierl aus Anlass des zwanzigsten Jahrestages der Oktoberrevolution 1967 eine "minutengerechte" "Variante für Deutschland" zu finden, indem er nach der Sintflut des zweiten Weltkriegs die Scheidung der "Reinen" und "Unreinen" am Beispiel der Spaltung Deutschlands und dem versuchten Aufbau des Sozialismus in der DDR aktualisierte. Eine Explosion "kommender Kommunen" ließ sich damit nicht mehr herbeireden. In der Regie von Wolfgang Pintzka brachte es die Aufführung nur zu einem Achtungserfolg.Nach der Rückverwandlung des "real existierenden Sozialismus" in eine Utopie durfte man also gespannt sein, wie sich nunmehr der kühnen dramatischen Hyperbel des Mysterium buffo eine geschichtssinnige Wiederbelebung einhauchen lasse, die gleichzeitig als Rückbesinnung der Volksbühne auf ihre institutionalisierte Tradition genommen werden konnte, "für die Verdammten dieser Erde" Schauplatz für Dar- und Ausstellung wenigstens ihres geistigen Elends zu sein. Aber kaum werden vor dem Eisernen Vorhang die vor der Sintflut auf den Nordpol geflüchteten "Reinen" und "Unreinen" von zwei Eskimos aus dem Eis gefischt, findet sich ein stämmiger, glatzköpfiger Herr mit rotem Wimpel ein, der kundtut, Wladimir Majakowski (Hagen Oechel) zu sein, und zuschauen zu wollen, "wie hoch entwickelt/ ein fremdes Leben/ im Stück sich zerstückelt" (so Majakowskis Polemik gegen Tschechow im "Prolog" des Mysterium buffo). Majakowski also ein Voyeur, der Agitator als Räsoneur, der Vorstürmer als passiver Mitläufer - das verhieß wenig Sinnvolles. In der Tat, der nach Hochgehen des Vorhangs über die sichtbar werdende Halbarena (Susanne Münzner) hereinbrechenden Sintflut wird schon durch das Aufsagen der Apokalypse auf griechisch der Touch ins Metaphysische statt ins Politische gegeben. Die "Reinen" und "Unreinen" vermengen sich in eine nur am Grad von Exzentrik und Hysterie unterscheidbare Reisegruppe (Artemis Chalkidou, Werner Eng, Susanne Jansen, Thomas Lawincky, Peter René Lüdicke, Cordelia Wege). Alles, was im entfleischten Text noch historische Bezüglichkeit aufweist, wird in Slapsticks, Spots und Kapriolen zerredet und verspielt. Nach Aufsetzen der Arche in der Form eines kopfüber hängenden Autowracks gibt es jedoch ein dazu erfundenes "Zwischenspiel 1", in dem sich zwei Darsteller in ein durch Spaghettimampfen (bei Castorf war es Kartoffelsalat) angereichertes Rededuell über Glauben und empirisches Wissen stürzen, das in einer blasphemisch aufgedonnerten Entlarvung der Passion Christi als Ausdruck vererbter und ethnischer Schizophrenie endet. Zeit natürlich, dafür endlich in die Hölle zu kommen. Hier ficht ein Ballett-Budjonny-Reiter wie Don Quichotte mit Krummsäbel gegen Schwefeldampf, gerät aber völlig aus dem Konzept, weil eine Leder-Teufelin ihn erst mit der Tosca vollnölt, dann mit der Endlosaufforderung "Ficken, bumsen" sprachlos macht. Aber dann gibt´s doch eine Erinnerung an Mysterium buffo, wie es einmal war: Nach Agitpropmanier wird chorisch aufgesagt, warum die Hölle gegen das irdische Dasein kein Schrecken ist. Majakowski wird aufgefordert, mit in den Himmel aufzubrechen, was er missmutig tut, denn er hat als Räsoneur das Publikum wissen lassen: "Ich hasse mich selbst, ich möchte sterben. Lasst mich in Ruhe." Der Introitus in den Himmel wird aufklärerisch mit dem Zitat aus Marxens 18.Brumaire eingeläutet, dass auf den Menschen, die ihre Geschichte machen, "die Tradition aller toten Geschlechter" wie ein Alp laste, wovon sie sich zu schützen trachteten, indem sie in "altehrwürdiger Verkleidung" und mit "erborgter Sprache die neue Weltgeschichtsszene aufführen." Und wozu das? Der Himmel stellt sich als sozialistische Kinderbewahranstalt dar, die zurecht verdient, mit der Losung der Spaßgesellschaft "Wir gehen schon nicht unter" aufgeklärt zu werden. Auch Majakowski wird überpinselt, um sich dann in einem weiteren Zwischenspiel mit Lilja Brik in ein letztes konfuses, verzweifeltes Liebesduell einzulassen, ausgerechnet in einem Kühlschrank Schutz vor der Kälte zu suchen und schließlich nach Briks Worten: "Alles ist zur Gewohnheit geworden - die Liebe, die Kunst, die Revolution" einsam unter einem Wölkchen zu enden, um gleich darauf videomagisch gen Himmel aufzufahren. Klar, dass mit diesem Ende über das "Land der Trümmer" nicht hinausgekommen zu werden braucht. Was damit gemeint ist, trägt einer der Darsteller vor dem Eisernen Vorhang vor, wobei Blutfarbe auf ihn herabtropft: Ein endloses Abfragen der Grenzbereiche zwischen Physik und Metaphysik. Hat sich das stürmische Mysterium buffo unter der Hand in ein Requiem auf Majakowski verwandelt, so endet es als Problemspiegel für einen existentialphilophischen Einkehrtag.Doch halt, da geht doch nochmals der Vorhang hoch! Sichtbar wird ein "lebendes Bild": Die Darsteller schwingen schweigend rote Flaggen auf den Türmen! Und Oechel bittet an der Rampe um Nachsicht für Majakowski, der als Künstler anders als die feigen Kritiker wenigstens etwas gewagt habe. Wer will da noch aufstehen und von Falsifikation von Leben wie Werk Majakowskis durch diese Interpretation von Mysterium buffo sprechen! Heilig machen die Sakrilege, hat doch schon Brecht gesagt. Aber ob Leichenschändung ein Sakrileg oder doch ganz einfach nur Perversion, "Extra-Kick" eines ausgefallenen Geistes ist, darf doch wohl noch nachgefragt werden. Jedenfalls, die Gottsuche kann jetzt auch auf der Traditionsstrecke der Volksbühne weitergehen!
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