Einige Zeit nach dem Arabischen Frühling fragt der US-Journalist Peter Hessler einen Schüler der ägyptischen Polizeiakademie, ob sich seit der Revolte in ihrer Ausbildung etwas geändert habe. Die Antwort klingt wie ein bitteres Resümee: „Beim Schießtraining üben wir jetzt häufiger mit scharfer Munition.“
Im Herbst 2011 war der Reporter, begleitet von seiner Frau und den beiden gemeinsamen Kindern, nach Kairo gereist, um Land und Leute kennenzulernen. Zu dieser Zeit ist der Tahrir – ein von hupenden und nur unzureichend mit funktionierenden Scheinwerfern ausgestatteten Kraftfahrzeugen bevölkerter Kreisverkehr – schon seit Monaten der Platz des Protestes. Gemeinsam mit seinem Dolmetscher Manu, einem damals 28 Jahre alten hom
alten homosexuellen Ägypter, mit dem Hessler manche brenzlige Situation zu bestehen hat, taucht der Korrespondent des Magazins New Yorker tief in das von gewaltsamen Übergriffen der Sicherheitskräfte begleitete Geschehen ein.Der Reporter spricht mit liberal gesinnten Protestierern, mit konservativen Muslimbrüdern, einfachen Leuten von der Straße und hochrangigen Politikern. Währenddessen bezieht er mit seiner Familie ein Haus auf der Nilinsel Zamalek, etwa 30 Minuten Fußweg vom Tahrir entfernt. Die Eheleute lernen die arabische Umgangssprache, die Zwillingstöchter gehen in den benachbarten Kindergarten. Sie sind gekommen, um zu bleiben – jedenfalls für die nächsten fünf Jahre. In dieser Zeit erleben sie, wie Präsident Husni Mubarak fällt, sein demokratisch gewählter islamistischer Nachfolger Mohammed Mursi 2013 von der Armee aus dem Amt geputscht, durch El-Sisi ersetzt wird und sich die Hoffnung auf einen demokratischen Neuanfang als Illusion entpuppt. Der Wunsch nach Freiheit verwandelt sich in die Frage nach dem geringeren Übel: islamistisches Regime oder die Herrschaft der Militärs.In seiner Großreportage Die Stimmen vom Nil zeigt Hessler anhand vieler selbst erlebter Geschichten, wie sich die politischen Ereignisse im Alltagsleben von Ägyptern ganz verschiedener Schichten auswirken; die in breiten Schichten der Gesellschaft verankerte Herrschaft alter Männer erweist sich dabei als Hemmschuh für wirkliche politische, soziale und ökonomische Reformen. „In diesem Land eine Frau zu sein“, erkennt der Autor, „erforderte sehr viel Energie, ständiges Nachdenken und Anpassung bis zur Selbstaufgabe, denn keine Frau konnte sich in einer selbst gewählten Identität einrichten.“Beschneide deine TochterAlles hing „vom Urteil der Männer in ihrem Umfeld ab, die ebenso über ihr Verhalten bestimmten wie über ihren Kleidungsstil, seien es nun der Ehemann, ein enger oder entfernter Verwandter, ein Freund des Ehemannes, ein Nachbar oder ein Mann auf der Straße.“ Die unter Mubarak verbotene Praxis der Genitalverstümmelung ist unter traditionell gesinnten Ägyptern – Muslimen, aber auch koptischen Christen – nach wie vor üblich. Nur dass sie nicht mehr im Krankenhaus ausgeführt wird. Als Hessler den befreundeten Müllsammer Sayyid davon abbringen will, seine Tochter dieser Prozedur zu unterziehen, lässt sich dieser nicht überzeugen. Wenn Frauen nicht beschnitten seien, meint er, liefen sie vor dem Haus herum und machten Jagd auf Männer.Immer wieder stellt Hessler, der zuvor zehn Jahre lang in China gelebt hatte, interessante Vergleiche an. Während junge Frauen im fernöstlichen Land der Mitte außer Haus arbeiteten, um von ihren Familien unabhängig zu werden, arbeiteten viele junge Ägypterinnen, um eine ordentliche Aussteuer zusammenzubekommen. Zum Verdruss ausländischer Unternehmen gaben die meisten ihre Erwerbstätigkeit nach wenigen Jahren wieder auf und banden sich als Ehefrauen wieder fest an die patriarchalische Familienstruktur.Fast beiläufig erzählt Hessler die Geschichte des Pharaonenreichs, die des Nasserismus, den Aufstieg der Muslimbruderschaft und die Vorgeschichte des Arabischen Frühlings. Aber im Zentrum stehen behutsame Porträts von Menschen, die er ein Stück ihres Lebens begleitet – im Fall seines Übersetzers Manu, der auch mit dem Ägypten-Korrespondenten des Guardian zusammenarbeitete, bis nach Deutschland. Aufgewachsen ist er in der Hafenstadt Port Said, wo sein Vater ein Café führte. Während seiner Bekanntschaft mit Hessler werden ihm drei Computer und zwei Handys gestohlen – von Männern, mit denen er schlief oder deren Gastgeber er war. Als er nach einer Denunziation verhaftet wird, denkt er an Suizid, da er befürchtet, als schwuler Mann das Gefängnis nicht zu überleben. Schließlich erhält er von einer LGBT-Gruppe eine Einladung nach Berlin und von der Deutschen Botschaft ein Visum und macht sich auf die Reise. 2017 wird seinem Asylantrag stattgegeben.Seit 2018 lebt Manu in Berlin. Eine gemeinsame Freundin machte uns miteinander bekannt. Die Stimmen vom Nil erinnert ihn an die Geräusche, die Gerüche, die Orte, die er hinter sich gelassen hat, als er Kairo verließ. Und an die Abenteuer, die er gemeinsam mit dem Autor dort erlebte. Als wir bei einer Tasse Kaffee in meiner Küche sitzen, erzählt Manu, der für dieses Interview lieber anonym bleiben möchte, wie er den Journalisten kennenlernte:Manu: Peter hat mir 2011 eine E-Mail geschickt, weil er jemanden suchte, der für ihn dolmetscht. Wir sind eine Zeit lang jeden Tag zum Tahrir gegangen. Er sammelte Eindrücke, machte sich Notizen. Manchmal dauerte es eine Woche, manchmal ein halbes Jahr, bis er sich ans Schreiben machte. Der New Yorker erwartete nicht, dass er tagesaktuelle Berichte schrieb. Wir haben in dieser Zeit viel zusammen erlebt und sind dadurch Freunde geworden.Hat sich seit Beginn des Arabischen Frühlings für homosexuelle Männer etwas zum Positiven gewendet?Ich hatte es gehofft. Als es losging, habe ich wegen eines Jobs nicht in Kairo gelebt. Ich bin dann zurückgekehrt, um am Neuanfang teilzunehmen. Alles sollte anders werden: in der Politik, im Sozialen – überall. Nachdem ich eine Zeit lang zum Tahrir gegangen bin, hatte ich schließlich das Gefühl: vielleicht nicht dieses Mal.Aber es ist in Ägypten doch nicht verboten, schwul zu sein, oder?Offiziell nicht, aber das braucht es auch nicht, um gegen Schwule vorzugehen. Man kann sie bezichtigen, der Prostitution nachzugehen oder ein ausschweifendes Verhalten zu zeigen. Darunter kann alles verstanden werden, was auf irgendeine Weise gegen die islamische Tradition verstößt: sexuelle Handlungen, Alkoholgenuss auf der Straße oder eine als zu freizügig erachtete Kleidung.Wo treffen sich schwule Männer in Kairo?Meine ersten Erfahrungen mit solchen Treffpunkten machte ich, als ich 2009 nach Kairo zog. Da gab es ein paar Bars, die offen für schwule Männer waren und in denen man Leute kennenlernen konnte. Es gab den Greek Club in der Nähe des Hauptbahnhofs. Dort fand – neben anderen Veranstaltungen – zweimal im Monat eine große, sehr freie Gay-Party statt. Da bin ich gerne hingegangen. Dieser Club machte zu, nachdem die Muslimbrüder an die Macht gekommen waren.Konnte man für eine solche Gay-Party öffentlich Werbung machen?Nein, das wäre vollkommen unmöglich gewesen.Placeholder infobox-1Du bist von einem Polizeispitzel verraten worden und musstest für 24 Stunden ins Gefängnis. Erst da erfuhr dein Vater, dass du schwul bist.Ein Polizist hat es ihm gesagt.Dein Vater war ein autoritärer Mann. Als du noch ein Kind warst, hat er dich geschlagen. Wie hat er reagiert?Er hat mich mit offenen Armen empfangen und wollte mich beschützen. Ich war davon überrascht. Es ist immer so in Ägypten. Du weißt nie, wie die Leute damit umgehen, wenn sie erfahren, dass du schwul bist. Freunde, von denen ich dachte, dass sie kein Problem damit haben würden, haben aggressiv reagiert oder die Beziehung zu mir abgebrochen. Es passiert aber auch, dass jemand, von dem du denkst, er würde ablehnend reagieren, sich ganz anders verhält – wie mein Vater.Hattest du das Gefühl, dass er dich als schwulen Sohn akzeptiert hat oder hat er den Sohn in dir gesehen und deine sexuelle Orientierung eher verdrängt.Wir haben darüber nie gesprochen. Ich denke, wenn er mein Schwulsein nicht akzeptiert hätte, würde er vielleicht versucht haben, es mir auszureden. Das tat er nicht und wir haben sehr offene Gespräche geführt, wenn ich ihn in Port Said besucht habe. Er hat mir, bevor er starb, sehr viel über sich erzählt. Wir haben zusammen gekocht und zusammen gegessen. Das war eine neue Erfahrung für mich.Als dich ein Freund aus Kairo in Deutschland besuchte, sagte er: Manu, du bist schwuler geworden. Hast du das auch so empfunden?Ja, das stimmt. Hier muss ich mich nicht die ganze Zeit selbst beobachten. Anders als in Ägypten muss ich nicht darauf achten, mich die ganze Zeit so zu verhalten, wie es die anderen Männer tun: wie ein Macho. Ich habe mich ganz anders bewegt, besonders, als ich noch nicht in Kairo lebte. Es war immer ein Traum von mir, nach Deutschland zu kommen. Ich hatte Deutsche kennengelernt, die in Kairo lebten und Arabisch lernten. Sie erzählten mir, dass es in Deutschland sehr sicher sei, ein Schwulenparadies.Wie sehen deine Zukunftspläne aus?Mein ägyptischer Bachelor, Wirtschaftswissenschaften mit Schwerpunkt Rechnungswesen, wird hier nicht anerkannt. Ich müsste einen deutschen Abschluss machen, aber es fällt mir schwer, mich wieder in eine Klasse zu setzen, um dort zu lernen. Ich möchte unbedingt etwas machen. Deshalb suche ich eine Arbeit. Wenn ich meinem Leben dann eine Richtung gegeben habe, könnte ich mir vorstellen, in Deutschland noch einen Abschluss zu machen.Gibt es Momente, in denen du bereust, nach Deutschland gekommen zu sein?Es kommt manchmal vor, dass ich die Scheiße vergesse, die ich in Ägypten erlebt habe. Wenn ich dann aber mit meinem besten Freund rede, der noch heute in Kairo lebt, und er mir erzählt, was dort heute jeden Tag passiert, dann weiß ich, dass ich die richtige Entscheidung getroffen habe.
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