Velvet Underground

A–Z Velvet-Underground-Sängerin Nico würde 80 Jahre alt. Für unser Lexikon haben wir die alten Alben herausgekramt und hören sie rauf und runter, von A bis Z
Ausgabe 41/2018
Velvet Underground

Foto: Herve Gloaguen/Gamma-Rapho/Getty Images

A

Album Wäre ich eine Geschäftsfrau, würde ich sagen: White Light/White Heat ist ein Album mit drei verschenkten Hits. Aber zum Glück hat die Aufnahme, die im September 1967 in New York entstanden ist, kein Businessmensch mit Zielvorgaben in die Finger gekriegt. Zumindest keiner, der genug Macht hatte, Lou Reed, John Cale, Sterling Morrison und ➝ Moe Tucker zurück in die Mayfair Recording Studios zu schicken, um das alles noch mal schöner aufzunehmen, mit einem sauberen Gitarrensound, ausgenüchtertem Gesang, klar erkennbaren Songeinstiegen und besser ausgebauten Refrains. So ist „White Light/White Heat“ ein ruppiges Biest, das es einem beim ersten Hören nicht leicht macht und dem man beim zweiten verfällt.

Hört man den achteinhalbminütigen Song The Gift, in dem ein Waldo sich zu seiner Geliebten Marsha in einer Postkiste verschicken lässt und bei der Ankunft den Schädel gespalten kriegt, so wünscht man sich, Lou Reed hätte auf seine alten Tage noch angefangen, Seriendrehbücher zu schreiben. Christine Käppeler

Atonal Während man in San Francisco bereits an Kuscheldecken für den Summer of Love strickte, herrschte an Amerikas Ostküste 1966 die Lust an der Unterwerfung: „They were like audio-sadists, watching the dancers trying to cope with the music“, beschreibt Andy Warhol die frühen Auftritte seiner Schützlinge. Mit atonalen Feedback-Orgien und dem monotonen Getrommel der Schlagzeugerin Moe Tucker überforderten die New Yorker ihr auf Hüftschwung geeichtes Publikum. Bassist und Viola-Spieler John Cale hatte schließlich sein Handwerk bei John Cage gelernt. Die dunklen Soundschleifen gelten bis heute als das Alleinstellungsmerkmal der Band, die auch von zärtlichen Peitschen schwärmte oder dem Verlangen nach Heroin. Die deutsche Femme fatale Christa „Nico“ Päffgen war nur auf Wunsch Warhols dabei (und schon bald wieder draußen). Ihr androgyner Nicht-Gesang (➝ Sex Pistols) passte perfekt zu der Band, deren grenzüberschreitende Größe erst Jahrzehnte später verstanden wurde. Jürgen Ziemer

B

Brandy 1962. Mit wehendem blondierten Schopf, ein helles Herrenhemd über den nackten Körper gestreift, reitet die junge Christa (➝ Zahlenmystik) Päffgen, Künstlername Nico, den weißen Hengst namens Descarrado II. – ein Cartujano-Pferd, feurig und widerspenstig. Beobachtet wird sie von einem genüsslich Brandy Terry Centenario trinkenden Señor. Skandal!

Das katholische Spanien der sechziger Jahre schrie auf bei dieser hochprozentigen Fernsehwerbung. Das war lange bevor Bianca Jagger hoch zu Ross ins New Yorker Studio 54 Einzug hielt und Helmut Newton eine Schöne auf dem Hotelbett sattelte. „Skandal!“, würden auch heute die Neo-Puritaner im Gewande der Anti-Sexisten rufen, denn darf es sein, dass eine Frau mit dem Feuer spielt und allem, was ihr auf der Seele brennt? Die Folge der in ihrer Kindheit erlebten sexuellen Gewalt ist ein Impuls zur Selbstzerstörung. Im Lied, anders als in der Wirklichkeit, triumphiert der Petit Chevalier, seinen Blick gen Himmel gerichtet, die Füße geerdet. Nichts kann den tapferen kleinen Ritter erschrecken. Hoffnung, j’irai te visiter! Ute Cohen

C

CvD Sokrates ist der, der nicht schreibt. Wie unser Chef vom Dienst. Sokrates hatte Platon, der CvD mich. Uns verbindet nicht Geist, sondern schrammeliger Indie-Pop. Da der CvD mal veritabler Nerd war, hat er viele Storys über Plattenkäufe parat: wie er etwa nach Kopenhagen fuhr, aber nichts von der Stadt sah, weil er nur in einem Keller nach LPs stöberte.

Oder in den Berliner Wedding. Zurück kam er mit Rock and Roll Diary: 1967–1980, einer Doppel-LP von Velvet Underground und Lou Reed und Phillip Boas This is Michael (im Schuber!). Das ermöglicht, den Ausflug in den Westen auf die Jahreswende 1989/1990 zu datieren. Und was haben Sie kurz nach dem Mauerfall so gemacht? Mladen Gladić

J

Jingle Den ursympathischen, kindlichen und doch weisen Rock ’n’ Roll, findet man bei Jonathan Richman. Wie stark seine Modern Lovers (1970 – 1988) von Velvet Underground beeinflusst waren, zeigt seine Hommage auf die Band, in der er fragte: „How in the world were they making that sound?“ Richman jobbte um 1969 für Warhol, er kannte Velvet Underground, diese „mystery band in a New York way“, und er kannte ihre Tricks. „A spooky tone on a Fender bass. Played less notes and left more space. Stayed kind of still, looked kinda shy. Kinda far away, kinda dignified.“ Der beste Jingle über Velvet Underground? Den hat Jonathan Richman geschrieben. Marc Peschke

M

Moe Tucker Die Drummerin ist leider nur ein sehr seltenes Wesen in der Welt der Pop- und Rockmusik. Sheila E. – ihr Vater war unter anderem bei Carlos Santana und Lionel Richie Schlagzeuger und Perkussionist – 1987 beim Prince-Konzert in der Deutschlandhalle gesehen zu haben, ist sicher einer meiner bleibendsten Eindrücke. Dann gibt es da Meg White von den White Stripes, die es hinter ihrem rot-weißen Drumset gehörig krachen ließ, oder Lenny Kravitz’ Drummerin Cindy Blackman, der Carlos Santana auf offener Bühne einen (stattgegebenen) Heiratsantrag machte.

Die ungewöhnlichste unter all diesen wunderbaren Raritäten ist jedoch Maureen „Moe“ Tucker. Sie brachte VU den aufs Nötigste reduzierten knochentrockenen Sound (➝ atonal), spielte im Stehen und hauptsächlich mit Filzstöcken, ohne Cymbals und die Basstrommel gekippt ohne Pedal. Im Song Heroin ist das besonders zu hören. Marc Ottiker

N

Nico, 1988 Ausgerechnet die Dänin Trine Dyrholm soll hier Nico in ihren letzten Lebensjahren darstellen? Dyrholm, die oft die eher unbedarfte Frau spielte, der irgendwie geholfen werden muss, und damit quasi das Gegenteil der herben, stets kühlen Stolz ausstrahlenden Nico darstellt?

In Susanna Nicchiarellis Film von 2017 aber sieht man Dyrholm einen Eigensinn und einen Willen zur Ungefälligkeit aus sich herausholen, die man ihr nicht zugetraut hätte. Mit dunkler Langhaarperücke und rauchgeschwängerter Stimme gibt sie ein sowohl ergreifendes als auch konsternierendes Porträt einer Frau, die in ihrer Kreativität völlig unabhängig entscheidet, in ihrer Sucht (Brandy) aber ein fremdbestimmtes Wesen bleibt. Vor allem eines trifft Dyrholm korrekt: ihre Nico hat jede Art von Mädchenhaftigkeit willentlich abgelegt. Man glaubt ihr, dass sie das Älterwerden begrüßt. Man wünscht, es wäre ihr mehr davon vergönnt gewesen. Barbara Schweizerhof

R

Raffinesse Ich lernte die Musik von Velvet Underground & Nico zur Hochzeit des Krautrocks, um 1973 herum, kennen. Nachdem mich Cream, Jimi Hendrix Experience, Frank Zappas Mothers of Invention, John McLaughlins Mahavishnu Orchestra oder King Crimson und ihre jeweiligen Saitengurus – als Gitarrenhero in spe – total frustriert zurückgelassen hatten, schöpfte ich, als ich die auf den ersten Blick weitaus weniger virtuosen Velvet Underground kennenlernte, wieder etwas Hoffnung ... In Wirklichkeit ist auch deren Simplizität (Jingle) von äußerster Raffinesse: Lou Reed kommt auch von Ornette Coleman, John Cale hat bei John Cage und bei Minimalisten wie La Monte Young studiert und mit Terry Riley eine Platte eingespielt. Werner Fritsch

S

Sex Pistols So Anfang der 1980er fielen mir in Zürich, das im Zuge heftiger Auseinandersetzungen um die Luxussanierung des Opernhauses, eine kurze Zeit lang brannte, die ersten Punks auf. Ich war fasziniert und abgeschreckt. Aber auch mich überrollte die Wucht der Sex Pistols (Raffinesse) und The Clash.

Der Zufall wollte es, dass ich zu jener Zeit auch VU zum ersten Mal hörte, den Sound automatisch im selben Genre verortete. Ich glaubte, diese Band sei ganz aktuell zeitgenössisch, bis ich erfuhr, sie sei aus den 60ern, dazu noch das Kunstprojekt eines Künstlers, der sich mit Drucken von Suppendosen einen Namen gemacht hatte. Die Tür in das aufregende Land der Kunst war nun weit geöffnet. Aus heutiger Sicht sind VU die coolen Eltern des Punks, der auch ohne die Pop-Art undenkbar wäre. Das Teeniemissverständnis katapultierte mein kulturelles Interesse unmittelbar in Vernetzung und vergleichende Praxis. Mehr kann man sich von Kunst eigentlich nicht wünschen. Marc Ottiker

Spreewald In Nicos Stimme schien immer auch die ganz dunkle Zeit in kalter Trauer konserviert. 1942 kam Nico als fast Vierjährige nach Lübbenau im Spreewald. Der Krieg schien weit weg. Bis Kriegsende wohnte sie bei den Großeltern in der Güterhofstraße, direkt an den Gleisen, auf denen auch die Züge von Berlin nach Auschwitz fuhren. Später will sich Nico an die „Menschen in den Waggons“ und an strenge Wachmannschaften erinnert haben. Ihr Biograf Tobias Lehmkuhl (➝ Zahlenmystik) hat recherchiert und keine Belege für diese Erinnerung gefunden (Nico. Biographie eines Rätsels, Rowohlt 2018). Passend: Nicos liebster Ort soll der evangelische Friedhof hinter der Güterhofstraße gewesen sein. Michael Angele

W

Westberlin Nicht sie, sondern er hatte The Velvet Underground rauf und runter gehört, damals in diesem 80er-Jahre-Westberlin, von dem so viele Legenden erzählen. Androgyner Typ, Bowie-Verschnitt. Aus der Kehrwochregion geflüchtet und vor dem Wehrdienst. Vermutlich hörte er nicht die Originalversion von Stephanie says aus dem Jahr 1968, welche jahrelang nur auf verschiedenen Bootlegs kursierte. Die legendäre Remixed-Version erschien erst 1985 auf dem ➝ Album VU. Manche finden, das fröhlich-depressive Lied von dem Mädchen, das alle Alaska nennen, sei VUs bester Song. Lou Reed schrieb das Lied einmal um für sein Album Berlin aus dem Jahr 1973. Caroline says klang jetzt so richtig depressiv. Der Rolling Stone befand, das ganze Album sei ein Desaster. Und 30 Jahre später wurde es doch auf Platz 344 der Top 500 gewählt (VUs Debütalbum kam auf Platz 4). Reed hatte die Songzeile „It’s so cold in Alaska“ gelassen. Berlin war auch wirklich legendär kalt in den 70ern und 80ern. Katharina Schmitz

Z

Zahlenmystik Christian Aaron. Vierzehn Buchstaben, das war seiner zahlenmystischen Mutter (➝ Nico, 1988) wichtig. Aber gerufen hat sie ihn nur Ari. Auf dem ersten Video, das von The Velvet Underground & Nico in Andy Warhols Factory aufgenommen wurde, ist er zu sehen. Auch im Film Chelsea Girls, der Nico ebenso berühmt machte wie die Band. Da war er vier und begleitete seine Mutter in die Clubs von Manhattan. Großmama nahm ihn schließlich zu sich, die Mutter seines Vaters. Der trug das gleiche Initial: A wie Alain Delon. Auf Nicos drittem Album, Desertshore, hört man den Achtjährigen singen. Dann sehen sie sich jahrelang nicht mehr. Als junger Mann teilt er mit Mama das Heroin. Nimmt noch andere Sachen, dreht durch, zehrt vom Ruhm seiner Mutter. Christa Päffgen ist ihr eigentlicher Name. Auch diesen hat sie ihrem Sohn vererbt. Tobias Lehmkuhl

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