Ventil oder Waffe

Stille Post Kolumne

Sonntag, gegen 18.00 Uhr schossen in meinem Nordberliner Vorort die Raketen in den Himmel. Deutschland war Handballweltmeister geworden. Der Herzschlag durfte sich wieder einregulieren. Bundespräsident Horst Köhler trug einen Schal in den polnischen Farben und Polens Präsident Lech Kaczynski einen in Schwarz-Rot-Gold, als sie gemeinsam in der Kölnarena dem Sieger wie dem Zweitplazierten gratulierten. Schöne Stimmung wie sonst selten zwischen den Nachbarländern. Noch am Vormittag des selben Tages meinte ein polnischer Fan im Radio, Deutschland habe zwei Weltkriege verloren, da werde man es auch im Handball schlagen können. Nun sei es zum dritten Mal nach 1938 und 1978 Weltmeister geworden, sagte der Reporter in der ARD. Dass auch die DDR 1958 und 1974 diesen Titel erkämpfte, waren ihm kein Wort und keinen Gedanken wert. Sind ja irgendwie keine Deutschen da drüben, damals nicht und heute nicht.

Auch auf Sizilien flogen am Wochenende Feuerwerkskörper, beim Erstligaspiel Catania gegen Palermo. Die schwere Randale zeigte die schwarze Seite des heutigen Sports, seine Rolle als Stellvertreterkrieg für andere soziale Auseinandersetzungen. Straßenschlachten, brennende Barrikaden, zahlreiche Verletzte und ein toter Polizist. Die italienische Regierung reagierte hart, verbot alle Ligapartien an diesem Spieltag. Überlegungen wurden laut, sämtliche Fußballveranstaltungen für ein Jahr auszusetzen. Wer sich erinnert, wie schnell strenge Strafen gegen Spitzenvereine wie Juventus Turin, AC Mailand und AC Florenz wegen massiver Bestechung nivelliert wurden, der wird den jetzt angedrohten Maßnahmen wenig Glauben schenken. Es geht um zu viel, um Milliardengeschäfte mit dem Leistungssport.

Der amerikanische Linguist Noam Chomsky hat dieser Tage in einem Zeitungsinterview erklärt, dass ihm die gesellschaftliche Rolle des Sports Angst mache. "Sport ist zu einer Methode disziplinärer Kontrolle verkommen". Er dürfte Recht haben. Sportveranstaltungen sind die Alltagsdroge Nummer eins, sie lassen affirmativen wie aggressiven Gefühlen jenen Raum, den der Großteil der Bevölkerung sonst nicht mehr artikulieren kann. Sport ist Ventil und Waffe zugleich. In erster Linie ist er allerdings eine Sache von Geschäft und Sponsoren. In den Stadien der deutschen Fußball-Bundesliga rollen vor jedem Spiel Luxuslimousinen über die Tartanbahn, auf dem Großbildschirm über den Traversen läuft Werbung ohne Ende. Bevor der Schiedsrichter anpfeift, verliest der Stadionsprecher noch einmal die Namen der Werbeträger von Coca Cola bis Vattenfall. Die Stadien heißen AOL-Arena, Schüco-Arena oder Allianz-Arena. Die Nürnberger Fans kämpfen noch tapfer um den traditionsreichen Namen ihres Frankenstadions. Auch das Cottbuser Stadion der Freundschaft hätte längst eine "zeitgemäße" Benennung, stünde nur ein Investor als Namenspatron bereit.

Trotz zuweilen mäßiger Qualität erlebt Fußball in Deutschland einen Boom. Die Umsätze der 36 Erst- und Zweitligavereine kletterten im vergangenen Geschäftsjahr um 19 Prozent auf über 1,5 Milliarden Euro. In einem Bonitätsranking liegen Bayern München in der Ersten und der SC Freiburg in der Zweiten Liga vorn. Aber auch Ostvereine wie Hansa Rostock und Erzgebirge Aue sind gut platziert. Durch die Fußball-WM (Sommermärchen!) sind diese Entwicklungen noch einmal kräftig angeheizt worden. Da ist es überraschend, dass die Handball-Champions noch keine WM-Prämie ausgehandelt haben. Ihr grundsympathischer Trainer Heiner Brand teilte mit, dass er den Begriff "Wintermärchen" nicht mehr hören könne und wolle. Zusammen verdient die Mannschaft ungefähr soviel wie der Bremer Stürmer Miroslav Klose. Da kommt dem Handball-WM-Song der Kölner Karnevalsband De Höhner "Wenn nicht jetzt, wann dann?" eine sehr spezielle Bedeutung zu. Profit wie Sportbegeisterung kennen keine Grenzen. Weshalb ich den Satz meines Arztes nicht vergessen werde, als er mir, der 1964 beim Mittelstreckenleistungstraining einen Kreislaufkollaps erlitt, den Rat gab: "Treiben Sie Sport oder bleiben Sie gesund".


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