Verbal entgleist

A–Z Für den „Anschlag auf die Demokratie“ ist Martin Schulz scharf kritisiert worden. Doch schlimmer geht’s immer, beweist unser Lexikon jetzt
Ausgabe 27/2017

A

Atomarer Erstschlag „Meine amerikanischen Mitbürger, ich bin erfreut, Ihnen heute mitteilen zu können, dass ich ein Gesetz unterzeichnet habe, welches Russland für immer für vogelfrei erklärt. Wir beginnen mit der Bombardierung in fünf Minuten.“ Nein, das ist kein Trump-Tweet. Obwohl der von Bomben auf Russland vielleicht profitieren könnte. Das Zitat ist zu lang für Twitter. Und es findet sich keine Beleidigung darin. Es stammt aus der guten alten Zeit, als US-Präsidenten noch auf eine solide Karriere als Filmschauspieler zurückblicken konnten, die sie für das höchste Amt prädestinierte.

US-Präsident Ronald Reagan meinte das Gesagte wohl gar nicht ernst. Bei einem Soundcheck im August 1984 hatte er mal wieder „gescherzt“. Einen jener Sprüche gemacht, wo die polnische Regierung auch mal aus „Pennern“ bestehen durfte. Das Zitierte wurde zwar nicht live gesendet, aber „geleakt“, obwohl man das damals noch nicht so nannte. Die sowjetische Prawda jedoch nannte es einen freudschen Versprecher (➝ Freud): Reagan habe „herausposaunt“, wovon er eigentlich träume, meinte sie. Mladen Gladić

C

Chiran Ich weiß nicht, ob es wirklich stimmt, aber der verstorbene Sir Peter Ustinov hat diese Geschichte erzählt, und sie ist einfach zu gut: US-Präsident George W. Bush hatte wohl Schwierigkeiten, die Länder Irak und Iran auseinanderzuhalten. Zu ähnlich die Namen, zu groß die geografische Nähe. Unpraktisch, denn bekanntermaßen wollte er den irakischen Diktator Saddam Hussein stürzen und suchte im Zweistromland deshalb erfolglos nach Massenvernichtungswaffen (➝ Atomarer Erstschlag). Mit Teheran hatte er hingegen erstmal nichts vor. Sein Vater George H. W. konnte ihm bei der kniffligen Unterscheidung trotz des zweiten Golfkriegs auch nicht helfen; Bush Junior bekam deshalb den Tipp, den damaligen französischen Staatspräsidenten Chirac als Eselbrücke zu verwenden. Chirac – Irak, das klingt ja fast gleich, kann also nichts mehr schiefgehen. Eigentlich. Bis er das nächste Mal auf den französischen Staatspräsidenten zu sprechen kam: „My dear friend Chiran“. Sophie Elmenthaler

F

Freud „Mein lieber Roland Kotz, äh, Koch!“ Beim CDU-Parteitag 2008 sorgte der merkelsche Fauxpas für allerhand Gelächter. Ein freudscher Versprecher, höhnte man. Dabei ist das eine zynische Unterstellung. Nur gemeine Gemüter erkennen dem „Lapsus Linguae“ eine über sprachliche Zufälle hinausweisende Bedeutung zu. Nein, er offenbart nicht die wahre Haltung gegen den sprachlich Geschundenen. Seine Ursache ist banal: Der Mund spricht langsamer, als das Hirn denkt; während der Mund also noch „Koch“ formt, denkt das Hirn schon an die „hessischen Freunde“. Es kommt zur Paarung der Worte auf rieslingbeschwerter Zunge, begleitet von einer Verschärfung des „ss“ zum „tz“ – ach, wem mache ich hier etwas vor! Geben wir es einfach zu: Der merkelsche Kotz-Koch-Lapsus hat uns allen aus der Seele gesprochen (➝ Atomarer Erstschlag). Marlen Hobrack

G

Gurkentruppe Gemessen an den schwarz-gelben Koalitionen geht es heute – auch wenn die Töne rauer werden – ziemlich anständig zu. 2010 aber, als der Grabenkampf um die Gesundheitskopfprämie eskalierte, kam es zu bemerkenswerten Entgleisungen. „Wildsau“ und „Gurkentruppe“ waren der Höhepunkt in einer mehrere Monate andauernden Schimpftirade über den Koalitionszaun hinweg (➝ Rekordhalter). Die CSU sei wie eine „Wildsau“ aufgetreten, empörte sich der damals noch als Staatssekretär wurstelnde Daniel Bahr, und habe sich „nur destruktiv“ gezeigt. „Gurkentruppe“, trat CSU-General Dobrindt kräftig zurück, „erst schlecht spielen und dann auch noch rummaulen“. Mit Blick auf Horst Seehofer, dem die FDP-Jungs ein „persönliches Trauma“ bescheinigten, dessen Therapie er sich von den Versicherten zahlen lasse, gab Dobrindt zwei Blattschüsse ab: Bei der FDP seien „zwei Sicherungen“ namens Lindner und Bahr durchgebrannt. Jens Spahn von der Union gab den Besonnenen: CSU und FDP verhielten sich wie nervige kleine Kinder. Berliner Theater, Eintritt frei. Ulrike Baureithel

L

Lachanfall In wildes Prusten, siehe unser Bild, entgleiste im September 2010 der Schweizer Finanzminister Hans-Rudolf Merz im Eidgenössischen Parlament. „Auf diese Antwort habe ich mich den ganzen Sonntag schon gefreut“, vermeldete der ansonsten als eher trocken geltende Bundesrat – um dann eine parlamentarische Antwort zum Thema Fleischimport zu verlesen. Betont korrekt pflügte er sich durch verschachtelte Beamtensätze. „Das zur Diskussion stehende gewürzte Fleisch – von Tieren der Rindviehgattung – wird unter der Zolltarifnummer 1602 – Punkt – 5099 – Klammer – Schlüssel 914 –Klammer geschlossen – außerhalb – des Zollkontingentes – veranlagt.“ Immer öfter bricht die Stimme. „Anmerkung 6 A! – zum Kapitel Zwo! – der KN!“ Merz muss innehalten, sich die Faust vor den Mund schlagen. Sekundenlang kichert er wie ein Schulmädchen, bevor er endlich, schluchzend vor Lachen, zum Punkt kommt: „Zum Beispiel ... Bü-hü-hündnerfleisch.“ Der Anfall wurde legendär und ist im Internet immer noch zu genießen. Nur einer fand’s nicht lustig. Der junge Zollbeamte und Verfasser. Es war sein erster Text. „Ich habe mir Mühe gegeben und nach bestem Wissen und Gewissen eine seriöse Antwort vorbereitet.“ Susann Sitzler

N

N-Wort „Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Neger“, soll Heinrich Lübke 1962 bei einem Staatsbesuch in Afrika gesagt haben. Dass ihm das Zitat trotz fehlender Quellen zugeschrieben wird, liegt wohl daran, dass der Präsident berüchtigt für seine Ausfälle war – so berüchtigt, dass die Satirezeitschrift pardon 1966 eine ganze LP mit Entgleisungen des Politikers herausgab. 50 Jahre später setzte sein bayerischer Kollege Joachim Herrmann, nach Lübkes Plattendebüt offenbar um die Profiltiefe seiner Fraktion bemüht, noch mal einen oben drauf:

„Roberto Blanco war immer ein wunderbarer Neger, der den weißen Deutschen wunderbar gefallen hat“, sagte der Minister in einer Talkshow und knüpfte damit nahtlos an das Menschenbild der Lübke-Ära an: Eine glückliche Missionsspardose, die brav mit dem Köpfchen nickt, wenn der großmütige Deutsche einen Pfennig in sein Töpfchen wirft. Der Schwarze ist ein gern gesehener Kasperl, solange er im Stadl von Spaß und Sonnenschein singt, und es nicht wagt, zu Hause einen öffentlichen Park aufzusuchen. Die beiläufige Zufriedenheit Herrmanns zeigt, dass er es gar nicht so gemeint hat, aber trotzdem irgendwie genauso sieht (➝ Freud). So wie Lübke, dem auch alles zugetraut wird, was man ihm in den Mund legt. Simon Schaffhöfer

P

Pannen-Peer Berühmt für seine Fettnäpfchen wurde Peer Steinbrück, der SPD-Kanzlerkandidat des Jahres 2013. Er redete so viel „Klartext“, das brachte ihn sogar in die New York Times. Mitten im Wahlkampf leistete sich der Mann Ausrutscher ohne Ende. War alles womöglich kühne Taktik? Natürlich nichts für SPD-„Heulsusen“. Was aber sonst mochte ihn geritten haben, als er der Schweiz im Steuerstreit mit der siebten Kavallerie von Fort Yuma drohte (➝ Atomarer Erstschlag)?

Über Angela Merkel sagte er in notorischer Mittelalter-weißer-Mann-Manier, sie profitiere vom Frauenbonus. Das KanzlerIngehalt: zu niedrig, jeder Sparkassendirektor verdiene mehr. Da stand der Honorar-Millionär schon knietief im Fettnapf. „Sagen Sie jetzt nichts“, heißt die Fotoreihe der Süddeutschen Zeitung, in der Prominente nur pantomimisch antworten. „Pannen-Peer, Problem-Peer, Peerslusconi – um nette Spitznamen müssen Sie sich keine Sorgen machen, oder?“ Steinbrück zeigte den Stinkefinger – zehn Tage vor der Wahl. Am gleichen Tag war Merkel auf dem Titel des Economist zu sehen, mindestens so ikonisch und spektakulär, die Hände formten freilich nur die Raute. Katharina Schmitz

R

Rekordhalter Einer der temperamentvollsten Politiker, die es in Deutschland jemals gab, war wohl Herbert Wehner. Von 1966 bis 1969 war Wehner Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen, anschließend bis 1983 Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion. Insgesamt war er 34 Jahre im Bundestag. In der Zeit trug er sich 77 Ordnungsrufe ein. Das ist Rekord. Wehner war für seine verbalen Attacken gegen politische Gegner berüchtigt (➝ Zorn). So pöbelte er den CDU-Abgeordneten Heiner Möller einmal während seiner Parlamentsrede an: „Waschen Sie sich erst einmal! Sie sehen ungewaschen aus.“

Bekannt auch die zahlreichen Wortspiele, mit denen Wehner die Namen anderer Abgeordneter verballhornte. So nannte er den CDU-Abgeordneten Wohlrabe einmal „Übelkrähe“. Wehners Vorwurf an Franz Josef Strauß im März 1975, ein Schreiben an die Bundestagspräsidentin aus der Feder des Bayern sei „im Grunde genommen ein Erguss“ gewesen, bewog einige CSU/CDU-Abgeornete dazu, den Plenarsaal zu verlassen. Wehner begleitete sie mit den Worten: „Machen Sie das draußen auch mit der Hosentasche weiter!“ Es wird kolportiert, Wehner habe solche verbalen Detonationen nie unkontrolliert, sondern stets mit Bedacht und Kalkül vorgebracht. Elke Allenstein

V

Verkehrstote In einer Welt, die mit jedem Tag immer komplexer wird, ist es schön, wenn Politiker klare Forderungen stellen. Denn wenn eins dem Rechtspopulismus Einhalt gebieten kann, ist es Prinzipientreue. Insofern müssen wir uns bedanken bei Ex-Verkehrsminister Peter Ramsauer, der vollmundig erklärte: „Die Verkehrstoten müssen halbiert werden.“ Richtig so. Das ist der Stoff, aus dem absolute Mehrheiten sind.

Denn wer die Verkehrstoten halbiert, verdoppelt die Zahl der Opfer. „6.560 halbe Verkehrstote“ hört sich einfach besser an als „3.280 ganze“. Da hat man im Ministerium plötzlich einen ganz anderen Handlungsspielraum. Ein verdammtes Genie, dieser Ramsauer. Schade, dass man Wohnungseinbrüche, Ladendiebstähle und linksextreme Straftaten nicht halbieren kann, um sie zu verdoppeln. Denn wer aus ACAB ein AC und ein AB macht, könnte in der linksradikalen Schmuddelei noch eine plakative Forderung nach mehr Wechselstrom und Audiorekordern erkennen. So was verwässert die Statistik. Und das ist das Letzte, was Ramsauer will. Simon Schaffhöfer

Z

Zorn Die Psychologen sind sich nicht darüber einig, wie Wut entsteht. Klar ist nur: Es ist besser, wenn sie raus kann. Joschka Fischer fand am 18. Oktober 1984 die perfekte Mischung zwischen Triebentladung und Zivilisiertheit: „Mit Verlaub, Herr Präsident, Sie sind ein Arschloch“, sagte er beim Herausgehen (➝ Rekordhalter) aus dem Bundestag, nachdem er nach mehrfacher Ermahnung aus diesem verwiesen wurde. Fischer gelang ein rhetorischer Spagat. „Mit Verlaub“ – eine höfliche Einleitungsformel, die heute so antiquiert klingt wie „Hört, hört!“ – und dann das derbe „Arschloch“, ein Rest Revoluzzertum. Wer Zorn nicht ablassen kann, neigt zu Krankheiten, etwa Bluthochdruck. Da kann man Fischer, der vor kurzem 69 wurde, nur ein langes, gesundes Leben wünschen. Konstantin Nowotny

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