Wer über die Kindheit und Jugend Adolf Hitlers liest, denkt unvermeidlich daran, was später kam, Auschwitz. Wir wissen zwar, dass Hitler sich erst relativ spät, nämlich mit um die dreißig, das Vollbild seines vernichtenden Fanatismus zugelegt hat, dennoch lässt sich die Frage nach dem Warum und Woher nicht abstellen. Als Menschen des Jahrhunderts der Psychologie müssen wir glauben, dass auch ein Adolf Hitler in seiner Kindheit und Jugend geprägt wurde und dass da irgendetwas schiefgelaufen ist. Hannes Leidinger und Christian Rapp haben nun ein Buch darüber vorgelegt. Doch sie drücken sich schon im Titel um eine Antwort: Hitler – prägende Jahre. Kindheit und Jugend 1889 – 1914, das sind drei Feststellungen. Keine Frage, keine These, kein Narrativ.
Es wäre auch viel verlangt, nachdem es schon über 150.000 Schriften zu Hitler geben soll, von dem schmalen Band des Historikers Leidinger und des Kulturwissenschaftlers Rapp den entscheidenden Mosaikstein für ein an sich unlösbares Rätsel zu erwarten. Warum gerade diese Person mit dem größten Menschheitsverbrechen in die Geschichte eingegangen ist, darauf gibt es keine letzte Antwort. Nicht umsonst hat Hitler selbst schon frühzeitig begonnen, sich zu verschlüsseln. Es gibt kaum Quellen zu seiner Sozialisation, und die wenigen Zeugnisse von Menschen, die ihn in jungen Jahren kannten, sind nicht vertrauenswürdig.
Die österreichischen Autoren stützen sich größtenteils auf frühe biografische Skizzen, allen voran auf die Materialsuche des sozialdemokratischen Politikers Franz Jetzinger. Zentrale Quelle ist dabei sein Briefwechsel mit Hitlers Jugendfreund August Kubizek aus den Jahren 1948 und ’49. Dass es sich um nachträgliche Einschätzungen handelt, und nach der Erfahrung des Zivilisationsbruchs, bekümmert die Biografen wenig. Ein methodisches Innehalten an dieser Stelle und die Frage, ob sich jemand an einen Adolf Hitler ohne massive Färberei erinnern konnte, hätte vermutlich zum Stillstand oder zumindest zu einer Umleitung ihres Untersuchungsweges führen müssen. Stattdessen gehen Leidinger und Rapp nach Fahrplan vor. Sie schildern die solide Zollbeamtenfamilie, in die Hitler 1889 hineingeboren wurde, die auch für damalige Verhältnisse hohe Kindersterblichkeit im Haus – von sechs überlebten nur zwei – und eine wiederum geradezu lehrbuchhafte Eltern-Kind-Beziehung mit dem strengen und gewaltbereiten Familienvorstand Alois und der gütigen und nachgiebigen Mutter Klara. Dass der kleine Adolf mit Halbgeschwistern aufwuchs, mehrfach den Wohnort wechselte, dass es nach der Pensionierung des Vaters finanziell bergab ging, das alles ist nicht einmal aus heutiger psychologisierender Sicht bedenklich.
Bitte mal begründen
Die Schulzeit Hitlers verlief ebenso unspektakulär, auch wenn er sich mit seinen schlechten Noten, die für einen höheren Bildungsabschluss nicht reichten, ungerecht behandelt fühlte. Schon früh sei er durch „herrisches Auftreten“ aufgefallen, sei faul gewesen, habe sich treiben lassen, aber gleichzeitig für Höheres berufen gefühlt; man sieht es vor sich, das Pubertier, das später mit seinem besten und womöglich einzigen Freund hochfliegende Träume spinnen sollte. Hitler wollte Musiker werden, Maler, Architekt, hatte schon genaue Vorstellungen, wie er Linz und Wien neu bauen würde. Das alles ist bekannt. Doch dann, ganz unvermittelt zwischen dem Tod des Vaters, dem Umzug nach Wien und diversen Ausflügen in die Welt der königlich-kaiserlichen Kultur und Politik bieten uns die Autoren ein „Charakterbild“ an. Faul, realitätsfern, unbeherrscht, empfindsam und eiskalt, verbohrt, rechthaberisch, megalomanisch und narzisstisch sei Adolf Hitler gewesen. Der Attribute gibt es viel, nur, belegt und begründet werden sie nicht. „Die Einwirkungen des sozialen Umfeldes und der lokalen Geschehnisse in seiner Jugendzeit dürfen dabei nicht außer Acht gelassen werden“, schreiben sie. Das stimmt. Doch wie genau das alles zusammenhängt, das erklären sie nicht. Entweder war das Thema zu groß, oder das Buch ist zu klein.
Info
Hitler – prägende Jahre Hannes Leidinger Christian Rapp Residenz Verlag 2020, 224 S., 24 €
Kommentare 15
"das alles ist nicht einmal aus heutiger psychologisierender Sicht bedenklich"
Da wäre vielleicht zu fragen, inwieweit die heutige psychologisierende Sicht Mittel zum Zwecke ist - zum Zwecke, das Kindsein mit den Erfordernissen des Erwachsenenlebens kompatibel erscheinen zu lassen.
"Entweder war das Thema zu groß, oder das Buch ist zu klein."
Aufgrund der schlechten Quellenlage vermutlich weder das eine noch das andere, die Quellenlage ist eben zu schlecht - möglicherweise wäre das Buch besser gar nicht geschrieben worden.
Es darf jedoch einiges plausibel vermutet werden, z.B. dass der kindliche Hitler kein kleiner Dämon in Menschengestalt war; vielleicht hat er der ein oder anderen Fliege Flügel ausgerissen oder sich mit Nachbarskindern gebalgt, das haben viele Leute aus meiner Generation in unseren Kinderjahren aber auch gemacht. Es darf, anders als das erste Zitat suggeriert, auch plausibel vermutet werden, dass die familiäre Situation das Kind Hitler geprägt hat. Verschiedene Menschen unter gleichen Lasten kommen nicht in gleicher Weise mit den Lasten klar; wenn sie Gegenteiliges suggeriert, irrt die psychologische Betrachtung. Nur darf auch vermutet werden, dass es nicht die familiäre Prägung allein war, so einzigartig und dramatisch ist dieses Schicksal auch wieder nicht. Hier geraten wir allerdings an die Grenzen plausiblen Vermutens; mit Persönlichkeitsstrukturen lässt sich alles erklären, was soviel heißt wie nichts, es sei denn, es stünden fundierte Daten über diese Persönlichkeitsstrukturen zur Verfügung.
Es steht allerdings wiederum plausibel zu vermuten, dass selbst die genaueste Kenntnis dieser Faktenlage einen möglichen Wiedergänger nicht verhindern könnte.
»(…) und eine wiederum geradezu lehrbuchhafte Eltern-Kind-Beziehung mit dem strengen und gewaltbereiten Familienvorstand Alois und der gütigen und nachgiebigen Mutter Klara. Dass der kleine Adolf mit Halbgeschwistern aufwuchs, mehrfach den Wohnort wechselte, dass es nach der Pensionierung des Vaters finanziell bergab ging, das alles ist nicht einmal aus heutiger psychologisierender Sicht bedenklich.«
Ach ja – das ist »nicht einmal aus heutiger psychologisierender Sicht bedenklich«?
Meines Wissens haben darüber hinaus so gut wie alle seriösen Hitler-Biografen – Ian Kershaw hier mal als Eichmarke genommen – große Bedenken konstatiert. Was in der historischen Forschung in der Tat etwas schief hängt, ist die Arbeitshypothese, »der Führer« sei erst im Verlauf seiner Kriegserfahrungen bzw. unter dem Eindruck der Novemberrevolution zu seinen revanchistischen, rechtsradikalen und speziell antisemitischen Einstellungen gekommen. Und zwar ungeachtet der Tatsache, dass IMPLIZIT bereits seit der Jahrhundertwende alles zusammen war – zumindest für alle, die die Zeichen an der Wand interpretieren können und mögen.
Ich nehme an, die bürgerliche Forschung möchte das bäuerlich-kleinbürgerliche Milieu, dem Hitler entstammte, nicht genauer zum Thema machen – möglicherweise würde sich herausstellen, dass der dort präsente Autoritarismus, die patriarchalischen Verhältnisse, die Gefühlskälte und die unbedingte Orientierung an gesellschaftlichem Aufstieg mehr mit der Mehrheitsgesellschaft zu tun haben, als man als etablierter Historiker in ein Buch schreiben möchte. Klaro – man möchte die eigene Gesellschaftsordnung ja nicht zur Disposition stellen.
Nichtsdestotrotz teile ich so gut wie alle vorgebrachten Argumente gegen das Buch von Hannes Leidinger und Christian Rapp. Es ist auch weniger »psychologisierend« im engeren Sinn – zumindest, was entsprechende Wertungen anbelangt. Mein Eindruck (jedenfalls nach einem kurzen Einblick in einer Buchhandlung) ist eher der, dass es sich hier um historisch verbrämte Kolportageliteratur handelt. In dem Kontext ergibt auch Jugendfreund Kubitschek als Zeitzeuge einen Sinn. Meine Bewertung wäre folglich die, dem vorgestellten Titel zwar wenig Beachtung zu schenken, die potenziell mörderischen Verhältnisse in Hitlers Herkunftmilieu sowie das Heranreifen einer entsprechend faschistoiden Gedankenwelt weiter unter »XY ungelöst« verbuchen.
"Klaro – man möchte die eigene Gesellschaftsordnung ja nicht zur Disposition stellen."
Und selbst wenn, stellt diese Gesellschaft ihre Ordnung noch lange nicht zur Disposition. Ganz abgesehen von der Frage, ob irgendeine Gesellschaftsordnung derartige Entgleisungsprozesse sicher verhindern kann.
Das Psychogramm Hitlers passt auch auf einige Rädelsführer bei Antifa, Linksjugend, Jusos und Grüne Jugend.
Durch die braungefärbte Brille von AfD & Co. gesehen sicherlich.
Vermutlich gibt es weltweit einige Millionen Menschen mit ähnlichem Psychogramm. Anders gesagt, dieser Aspekt ist prognoseunfähig, oder auch gleich gegenstandslos.
Ich denke, dass mit den Psychologeleien über die Person Adolf Hitler, der ganz alleine die Zerstörungswucht des „Dritten Reiches“ erfunden und bewerkstelligt haben soll, wesentliche Ursprünge verschleiert werden: Der „Deutschvölkische Schutz- und Trutzbund“ und die „Thule-Gesellschaft“.
Wer sich mal vergegenwärtigt, dass die Zeitung der Thulegesellschaft „Münchner Beobachter“ im August 1919 in „Völkischer Beobachter“ umbenannt wurde kommt der Sache eher auf die Spur als die Dimpfeleien über den Zollbeamtensohn mit der Zahnbürste unter der Nase.
Und wer ist schuld an Hitler? Karl Kraus!
Besagter Herr Kraus sammelte ab 1915 Zeitungsartikel, die er dann überspitzt ausformuliert seinen realen und auch erfundenen Bühnenfiguren in den Mund legte. Ziel: Kritik an dieser organisierten Abwendung von bisherigen Idealen, christlich erforderlich einzuhaltenden Geboten, sonst immer gepriesener Leitkultur. Hä? Wie kommt Merzens "Leidkultur" hierher?
Aber Kraus war da nicht alleine, wenn er die letzten Tage gekommen sah. Auch Torbergs Tante sah das als Untergang des Abendlandes. Doch während es Torberg bei den Anekdoten beläßt und dem Leser sogar überläßt, mehr als Anekdoten zu sehen, ist Krausens Deutung der Realität bereits Schuldzuweisung oder knapp dran an solcher.
Ob Hitler Krausens "letzte Tage" gelesen hat, weiß ich nicht. Zeitlich ginge sich das aus, als Anstiftung zu "Mein Krampf" (Untertitel: Ich kann es besser...) gedient zu haben. Angefixt von Schönerers "Großdeutschen" und Luegers "Christlichsozialen" war er ja schon, sonst wäre er nicht an der Westfront sondern irgendwo in Serbien oder am Isonzo gewesen. Und daß er ähnliche Gedanken gehabt haben kann wie Kraus, als er Zeitungsausschnitte sammelte, ist nicht ausgeschlossen. Hitler hat eben Schuldige gesehen, die man bloß hintanhalten, beseitigen müßte, um den Krieg doch noch zu gewinnen. Drum war ja Ludendorf einer seiner ersten Förderer.
Die heutige Zauberformel "Er hatte eine schwere Kindheit..." ist sowieso Mumpitz, weil die "schwere Kindheit" in jede Richtung führen kann. Auf die Verarbeitung des Erlebten als Erwachsener kommt es an. Und da kennen wir ja seine Gesellschaft, seine Zeit und ihre Gedanken.
Da frage ich mich manchmal, was geworden wäre, wenn der Herr statt am Inn im Almtal geboren worden wäre: Grünau statt Braunau?
"Ach ja – das ist »nicht einmal aus heutiger psychologisierender Sicht bedenklich«?
Meines Wissens haben darüber hinaus so gut wie alle seriösen Hitler-Biografen – Ian Kershaw hier mal als Eichmarke genommen – große Bedenken konstatiert."
In dem Zusammenhang sollte man Alice Millers Arbeit "Am Anfang war Erziehung" erwähnen. Ich meine mich zu erinnern (habe das Buch gerade nicht zur Hand), dass Hitler in einem seiner Tisch-Monologe diese Kindheitserinnerung zum Besten gegeben hat: Er habe die Prügelorgien seines Vaters irgendwann nicht mehr ausgehalten und wollte flüchten. Nun hatte sein Zimmer wohl nur ein schmales Fenster, durch das er nur nackt entkommen konnte. Also entkleidete Hitler sich, zwängte sich durch den engen Rahmen und- blieb stecken. Sein Vater, wohl durch die Geräusche angelockt, sah die Szenerie, reagierte jedoch anders als gedacht. Er lachte seinen Sohn aus und ließ ihn stecken.
Wenn eine solche Kindheit nicht charakterformend bzw. persönlichkeitszerstörend ist...
Biosch1 schreibt: "Das Psychogramm Hitlers passt auch auf einige Rädelsführer bei Antifa, Linksjugend, Jusos und Grüne Jugend."
Es gibt in Deutschland seit 1946 Rechtsextremisten, Faschisten, Neonazis, Nationalkonservative, Nationalliberale und Revisionisten, die kommen, wenn es um Adolf Hitler geht, auch immer mit dem Kommunistenführer Josef Stalin daher.
Zweifelsohne waren beides Diktatoren, aber mit einem ganz gewaltigen und entscheidenden Unterschied. Stalin wurde nie gewählt, hat keinen Weltkrieg angefangen und sich dann auch noch so dämlich angestellt und diesen Weltkrieg verloren.
Bei den letzten freien Reichstagswahlen, die es in Deutschland am Ende der Weimarer Republik 1933 nach der sog. "Machtergreifung" gab, haben rund 43 Prozent der anständigen, ordentlichen, fleißigen, tüchtigen, pünktlichen, sauberen, rechtschaffenen, ehrlichen, aufrichtigen, gottesfüchtigen und mehrheitlich "christlichen" Deutschen ihren eigenen (rechten) Diktator gewählt.
Oder was waren das für braune Idioten und Dickdarmkriecher, die freiwillig Adolf Hitler gewählt haben? Und das, obwohl es seinerzeit durchaus warnende Stimmen gab: "Wer Hitler wählt, wählt den Krieg".
Stellt sich abschließend die Frage: Zu welcher Gruppe gehört "Biosch1"?
Die linksextremen Mordphantasien gegen Besserverdienende werden von Gesinnungsbrüdern in der Antifa natürlich gerne verdrängt.
Hier wird über Hitlers Kindheit diskutiert. Wenn Sie Schaum vor dem Mund haben oder Themen anderweitig nicht mehr auseinander halten können, schlage ich vor, Sie wenden sich an einen Arzt Ihres Vertrauens.
An das Buch hatte ich auch gedacht. Prügelorgien und Vergötterung, dazu noch Traumatisierungen durch den Tod der Geschwister, sowie eine Unklarheit bezüglich der Herkunft/Vaterschaft. Das Zauberwort heißt hier Spitzenaffekte.
Bei wem da nicht 5 von 3 Alarmglocken schrillen, der hat Psychologie nicht mal im Ansatz verstanden. Die Hitlers malignen Narzissmus prägenden Jahren, waren die ersten, der Junge hat die Hölle erlebt und die Möglichkeit seinen Hass zu agieren.
Es gibt keine massenmörderspezifische Vita. Der anamnestische Rückblick ist daher überflüssig.
Elternhäuser können Neurosen jeder Art produzieren, auch pathologische Persönlichkeiten, aber keine Massenmörder der Dimension eines Adolf Hitlers.
Spinnerte Persönlichkeiten können Phantasiebilder jeder Art entwickeln und werden doch nicht automatisch, resp. geradezu zwangsläufig zu Massenmördern.
Der abartige Adolf Hitler hat es verstanden, seine abartigen Phantasiebilder mit Hilfe zahlreicher abartiger Assistenzen auch aus der Bevölkerung als eine Art Weltanschauung zu verbrämen und zu etablieren. Nur das machte ihn und schließlich seinen Apparat so gefährlich.
Corona macht deutlich, wie leicht es ist, ganze Bevölkerungen „propagandistisch auf Linie“ zu bringen.
Umgekehrt wäre vermutlich Barack Hussein Obama II nie zum Massenmörder geworden, wenn er nicht US-amerikanischer Präsident geworden wäre. So einen Job erhalten in den USA nur Personen, die die grundsätzliche Bereitschaft dazu mitbringen.
- a) mobilisierungen von bevölkerungen("propagandistisch auf linie bringen")
müssen nicht immer negativ zu bewerten sein.
- b) ja, die gnade des verfehlten wahl-erfolgs hat manche flegel
vor dem äußersten bewahrt!