Was früher das Wissen war, sind heute die Medien: Macht. Oder auch: Wer die Macht hat, beherrscht die Medien (Russland), beziehungsweise umgekehrt (Italien). Doch um ihre Macht zu entfalten, brauchen die Medien erst mal Zuschauer. Das tägliche Plebiszit der Quoten verleiht ihnen einen pseudo-demokratischen Charakter. Aber kann sich denn der Fernsehkonsument wirklich frei entscheiden? Kaum - analog zum ideologiekritischen Begriff des "Kaufzwangs" nämlich muss vom Phänomen des "Fernsehzwangs" geredet werden. Der Zuschauer neigt überwiegend dazu, reflexartig das Programm einzuschalten, von dem er denkt, dass die Mehrheit es sehen will. Weil er teilhaben möchte am großen Ganzen; schließlich hat die Devise "Dabei sein ist alles" nirgendwo mehr solche G
ültigkeit wie vor dem TV-Gerät.Zu diesem Schluss zu kommen verführt zumindest das Quotenergebnis der Übertragung des Grand Prix: Fast neun Millionen Zuschauer allein in Deutschland - die können nicht alle wirklich an den Auftritten von Pop- und Schlagersternchen aus 23 Ländern Europas interessiert gewesen sein. Oder gar mit Michelle um den "Sieg" gefiebert haben. Nein, der Grand Prix ist das Paradebeispiel entfremdeten Fernsehens: Eine Sendung, die besichtigt wird, um herauszufinden, was andere daran so interessant finden. Um am Ende, kurz nach Mitternacht, den nach Aufklärung gierenden Zuschauer vollkommen ratlos zurückzulassen, mit nur noch einer rhetorisch Frage im Kopf: "Womit habe ich den Abend zugebracht?"In kaum einem Jahr zuvor hat die ausführliche Vorberichterstattung in allen Zeitungen egal welcher Ausrichtung so dazu verführt, den Grand Prix als Kulturereignis ernst zu nehmen. Wäre er das, müsste man sich wahrscheinlich auch ernsthaft freuen über den Sieg Estlands, müsste ihn als Zeichen der Integration begrüßen und in frohes Erstaunen über die gegenseitige kulturelle Bereicherung Europas ausbrechen. Da dieser Song Contest aber kein Kultur-, sondern ein bloßes Fernsehereignis ist, wären solche Reaktionen völlig unangebracht, kommt doch der Veranstaltung allenfalls als Gradmesser für den Willen der einheimischen Musikindustrien, sich auf dem europäischen Markt zu prostituieren, eine signifikante Funktion zu. Aber wer mag heute noch dem Kommerz seine Kommerzialität vorhalten? "Die Wahrheit, dass sie nichts sind als Geschäft, verwenden sie als Ideologie, die den Schund legitimieren soll, den sie vorsätzlich herstellen", so harte Worte gegen die "Kulturindustrien" wirken heute deplaziert, ist man doch froh, wenn sich Kultur, oder was man dafür hält, selbst finanziert.Was also zwingt den Zuschauer bei Sendungen wie dem Grand Prix vor den Bildschirm? Vielleicht die Hoffnung darauf, überrascht zu werden. "In den britischen Wettbüros gelten sie als sichere Absteiger: Dröge das Arrangement, zu wenig spektakulär, als dass jemand beim TED ausgerechnet für sie telefoniert. Nicht einmal die Kleidung taugt. Vergeben, schnell vergessen", war als Prognose über das Estnische Lied in der taz zu lesen. Für den, der sich im Nachhinein an dieser Fehleinschätzung freuen kann, hat sich das Dabeisein doch noch ausgezahlt.Dieses Spannungsversprechen - dass sich die Vorab-Kritik als unhaltbar erweist - mag in Zeiten großflächiger Programmhinweise in den Tageszeitungen einen eigenen Anreiz geben, sich vor den Fernseher zwingen zu lassen: Das muss man gesehen haben! So zumindest war man angehalten von Wambo zu denken, der Fernsehfassung des spektakulären Doppellebens des "Volksschauspielers" Walter Sedlmayr. Aber bei näherer Betrachtung stellte sich heraus, dass an dieser SAT1-Produktion vor allem die Pressearbeit zu belobigen war; der Film selbst konnte den vorausgeschickten Lorbeeren kaum standhalten. Die delikaten Szenen waren bereits erzählt, die Interpretationsschemata schon angelegt, und so besaß Wambo kein Geheimnis mehr, das sich dem Zuschauer noch eigens hätte preisgeben können.Dabei war die Programmkonstellation so günstig: Bei Christiansen wurde am selben Abend über den Verfall von Sitte und Moral geredet. Das hätte spannend werden können: Zwischen den Genres von Fiktion und Talkshow hin und her zappend den aktuellen Diskurs über Sexualität und Gesellschaft verfolgen. Aber auf beiden Kanälen brach man bewusst nicht aus der bewährten Sozialarbeitsmentalität aus: Ein sadistischer Vater und eine masochistische Mutter als Ursache für zwanghaftes Doppelleben in Wambo setzen beim Zuschauer den eingespielten Verständnis-Reflex in Gang, dasselbe Verständnis für soziale Notlagen hielt auch die Diskussion bei Christiansen brav und schön abseits der wirklich interessanten Fragen nach den Kehrseiten der Regulierungswut, den Grenzen der Domestizierung von Sexualität und dem Realitätsgehalt des Freier-Feindbildes. Und wie am Abend zuvor beim Grand Prix musste sich der interessierte Zuschauer fragen, wozu er eigentlich vor dem Apparat sitzt.Ist ein Fernsehen vorstellbar, dass ein Interesse befriedigt und nicht durch beständige Frustration am Köcheln hält, um den Zuschauer möglichst lang zu binden? Sendungen, die keinen Medien-"hype" brauchen, weil sie ihre Zuschauer auch selbständig, aus sich heraus erobern können? Aber die Macht des Fernsehens scheint gerade darauf zu beruhen, uns immer wieder mit der reinen Erwartung zu ködern.