Vergessene Lebenswege

AfD Plötzlich ist der Erfolg einer rechtsradikalen Partei ein Grund, sich mal kurz dem Frust im Osten zuzuwenden
Ausgabe 39/2017

Welch ein Schock: In Sachsen wurde die AfD stärkste Partei! In Mecklenburg-Vorpommern, Thüringen, Brandenburg, Sachsen-Anhalt zweitstärkste. Es ist tragisch: Die Ostdeutschen geben einer Partei ihre Stimme, die das Gegenteil von dem anstrebt, was sie suchen. Nach der Wende haben viele Menschen zwischen Rostock und Zwickau mit großem Enthusiasmus die CDU gewählt und wurden enttäuscht: Blühende Landschaften fanden sie vorzugsweise dort, wo Unkraut in abgewrackten Fabriken spross. Dann wandten sich viele der SPD zu, in der Hoffnung auf mehr Gerechtigkeit – und wieder hatten sie sich getäuscht. Und die Linken, organisiert in der PDS? Sie hätte am ehesten die Stimme des Ostens sein können, kämpfte aber jahrelang um ihre Existenz, gegen Rote-Socken-Kampagnen und Stasi-Vorwürfe. So fanden die Identitätsbrüche ihrer Landsleute zu wenig Beachtung. Die Linken versäumten es, gemeinsam mit den Menschen in den neuen Ländern an einer Geschichte zu schreiben, die Lebensleistungen reflektierte und ein selbstbestimmter Gegenentwurf zum herrschenden Geschichtsbild war. Das sollte Alltagsleben nicht so erinnern, wie es sich in der DDR abgespielt hatte. Stattdessen wurden die Erzählungen einer relativ kleinen Gruppe, der Oppositionellen, in den Mittelpunkt gestellt.

Die Zeit für jenen Gegenentwurf ist reif. Überreif, wie der Erfolg der AfD zeigt. Es fehlen Erinnerungsmuster, die Lebenswegen gerechter werden, als das bisher der Fall ist.

Welche psychischen und physischen Zerreißproben der industrielle Abriss für die Ostdeutschen bedeutete, ist kaum ausgeleuchtet. Wie und wo wurde diese Strapaze ausagiert? Politisch gab es keine Partei, die dafür offen war. In den Betrieben? Wohl kaum. Jeder, der noch Arbeit hatte, war froh und tat alles, um nicht aufzufallen. Also in den Familien? Wer sich entwurzelt fühlte, konnte nur mit Mühe eigenen Kindern ein Halt sein. Jugendliche und junge Erwachsene tickten förmlich aus. In ihrer Orientierungslosigkeit fielen viele rechtem Gedankengut anheim, bestärkt durch den Applaus der Älteren. Man denke an Rostock-Lichtenhagen und Hoyerswerda.

Wie viele Beziehungen zerbrachen, weil sie den Belastungen nicht gewachsen waren? Laut Gesundheitsbericht des Statistischen Bundesamtes nahmen die Herzinfarkte von 1990 bis 1992 um gut 20 Prozent zu. Bei anderen psychosozial bedingten Krankheiten wie Krebs und Depressionen geriet der Wendestress kaum in den Blick. Alkoholkonsum oder Selbstmorde wurden ebenso wenig untersucht. Die Münchner Ökonomen Gerlinde und Hans-Werner Sinn konstatierten 1992: „Die Schärfe der ostdeutschen Depression ist ohne Beispiel in der neueren Wirtschaftsgeschichte.“ Das Beschönigungsverhalten von Politik und Medien versucht bis heute, diese Erfahrungen zu tabuisieren, und hält sich an eine durch Westsicht geprägte Geschichte der DDR. Darauf reagieren die Ostdeutschen zusehends allergisch.

Als meine Mitarbeiter und ich zwischen November 2013 und März 2014 für das Buch Mein letzter Arbeitstag Menschen aus Schwarze Pumpe, Wismar, Anklam, Neubrandenburg, Berlin und Zwickau in meinen Berliner Erzählsalon einluden, begriffen wir, wie schwer der Schock über die Arbeitslosigkeit sein konnte. Eine Sekretärin, eine Berufsschullehrerin, eine Straßenbahnfahrerin, eine Kindergärtnerin, sechs Bergleute, ein Werkleiter, ein Gewerkschafter, ein Professor schilderten, was ihnen widerfahren war. Behutsam tasteten sie sich an ihr Trauma heran. Oft schälte sich ein Entsetzen heraus, das lange Zeit verkapselt war: Keine Aufgabe mehr zu haben, nicht mehr gebraucht zu werden, war eine Heimsuchung.

Wie Elektroschocks

Viele Ostdeutsche empfanden den Betrieb als zweite Familie. Gestandene Männer bekamen feuchte Augen, wenn sie darüber sprachen. Natürlich fanden viele der Betroffenen durch das „Jobwunder“, wie es der Agenda 2010 zugeschrieben wird, wieder Arbeit. Jedoch oft unter ihrer Qualifikation, befristet und prekär entlohnt. Wer wieder und wieder arbeitslos wurde, musste einsehen, abgehängt zu sein. Aus der Sozialpsychologie wissen wir, dass Menschen mit gebrochenen Identitäten besonders anfällig für Propaganda sind. Kein Wunder, dass 26 Prozent der ostdeutschen Männer AfD wählten, mehr als jeder vierte, vorrangig Männer im arbeitsfähigen Alter, darunter Facharbeiter, Meister und Ingenieure, die sich als Ostdeutsche zurückgesetzt fühlen.

Über zwei Millionen Menschen wechselten seit 1990 aus dem Osten in den Westen, auch in die Schweiz, nach Österreich oder nach Nordamerika. Vor allem junge Leute, die glaubten, nur in der Fremde eine Chance zu haben. Die Geburtenrate sank in den 1990er Jahren auf ein Drittel der Vorwendezeit. Ein Rückgang wie zuletzt im Dreißigjährigen Krieg.

Schwerer als der Verlust des Arbeitsplatzes wiegen die Demütigungen, wenn Menschen eingeredet wurde, sie hätten nicht nur im falschen System gelebt, sondern auch das falsche Leben geführt. Sie seien leider keine harte Arbeit gewohnt und fühlten sich in der sozialen Hängematte am besten aufgehoben. Anfangs wirkten diese Unterstellungen wie Elektroschocks. Zwischenzeitlich haben sich viele Ostdeutsche daran gewöhnt: Eine vor wenigen Woche vorgestellte Studie, die drei westdeutsche Soziologen der Universität Jena verantworten, fragte, warum man unter den Eliten in Ostdeutschland nur zwei Prozent Ostdeutsche finde. Die Antwort: Weil diese „kollektivistisch“ sozialisiert seien, taugten sie kaum für die Übernahme von Führungsverantwortung. Jeder Ostdeutsche kann von solch stigmatisierender Evaluierung berichten. Sie begann mit dem Einigungsvertrag. So wurden die Ostdeutschen nicht nur enteignet, sondern auch entrechtet, indem Berufs- und Studienabschlüsse, Renten- und Pensionsrechte nicht anerkannt wurden. Eine Kränkung, die sich irgendwann als Wut entladen musste. Wie jetzt am Wahltag. Dessen Ergebnisse im Osten spiegeln das Bedürfnis nach Revanche für eine Einheit, die keine ist, sondern die permanente Fortschreibung von Zweitklassigkeit oder der Existenz von zwei Ländern in einem Staat.

In den politischen und medialen Eliten gibt es in dieser Hinsicht ein akutes Wahrnehmungsdefizit. Das soll keine Rechtfertigung sein, ist aber eine Erklärung für die Aggressivität, mit der etwa in Sachsen oder Sachsen-Anhalt auf die Ankunft von Flüchtlingen aus Bürgerkriegsstaaten reagiert wurde. „Integriert erst mal uns“, stand im Herbst 2015 auf Plakaten in Heidenau und Dresden. Das verhallt nicht mehr ungehört, seit die AfD für einen Resonanzboden sorgt. So fatal das ist, aber sie verstärkt ostdeutsche Stimmen, damit sie von der Gesellschaft gehört werden. Darauf scheinen viele ihrer Wähler zu hoffen.

Es gab in der letzten Bundesregierung erste Schritte in die richtige Richtung, unternommen besonders von Iris Gleicke (SPD) als der Ostbeauftragten. Bei der Vorstellung des von ihr in Auftrag gegebenen Industrieatlasses zur Lage im Osten, war die Rede davon, dass viele der Fördermillionen wirkungslos blieben. Es sei besser, die Ostdeutschen hielten sich an ihre Potenziale. Doch was und wo sind die zu finden? Meine Mitarbeiter und ich erkundeten sie mit Hilfe des Erzählprojektes Die Lausitz an einen Tisch. Zu entdecken war: Die Ostdeutschen sind in der Tat kooperativ, da hat die Elitestudie vollkommen recht. Sie handeln solidarischer und denken eher gemeinwohlorientiert, etwa wenn es um Arbeitsplätze geht, eine Priorität für ostdeutsche Unternehmer, einst auch für westdeutsche, solange die Systemkonkurrenz mit dem Sozialismus bestand.

Chance für die anderen

Bestätigt fanden wir bei unserer Arbeit, was westdeutsche Unternehmer längst erkannt haben: Ostdeutsche Arbeiter verfügen über eine sehr gute Ausbildung, gab es doch in der DDR ein berufsbegleitendes Weiterbildungssystem, dazu hervorragende Fach- und Hochschulen. Improvisationsgeschulte Ingenieure wussten mit knappen Ressourcen umzugehen. Sie standen mit ihrem Selbstverständnis in der Tradition des deutschen Ingenieurs: Sie wollten ein Problem lösen, nicht aussitzen. Auch die DDR-Kombinatsdirektoren, die wir seit fünf Jahren in unseren Salon einladen, ihre Geschichte zu erzählen, berichten, wie lösungsorientiert sie arbeiteten. Ihre Kompetenz steht außer Frage. Wenn sie die DDR-Zustände mit den heutigen vergleichen, stellen sie dreimal wöchentlich fest: Das konnten wir zu DDR-Zeiten besser. Nur wer will das hören? Die sächsische Integrationsministerin Petra Köpping (SPD) schon. Sie wird, seit sie das tut, mit verzweifelten, traurigen, ängstlichen Geschichten überschwemmt. Sie erkennt an, das die Vita eines Menschen gewürdigt sein will. Es bräuchte tausend solcher Ohren, um Ostdeutsche erzählen zu lassen. Erzählen befreit und ist eine gesellschaftliche Ressource, die weitgehend unentdeckt ist. Anstatt in die Infrastruktur sollte in eine Sozialstruktur investiert werden, die gemeinschaftsbildende Prozesse ermöglicht. Sie sollte Fördermittel bereitstellen, damit Kommunikationsräume wie der Dorfkonsum und die Dorfkneipe in strukturschwachen Regionen neu entstehen können.

Die nun in den Bundestag einziehende AfD hat kein Interesse, derart komplexe Probleme zu lösen. Eine Chance für die anderen Parteien, sofern sie begreifen, dass sich Politik den Ausgegrenzten und Abgehängten zuwenden muss – keinesfalls über deren Köpfe hinweg betrieben werden kann.

Katrin Rohnstock hat die Buchreihe Ost-Westlicher Diwan und den Ost-West-Erzählsalon initiiert, um für ein differenzierteres DDR-Bild zu sorgen

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