Vergiss es!

Gesetz Laut Verfassung hat man das Recht auf Veränderung, also auf Vergessenwerden. Wieso ist es so schwer umzusetzen?
Ausgabe 42/2021
Vergiss es!

Illustration: der Freitag

Die Debatte selbst ist fast in Vergessenheit geraten: Gibt es im Internet ein Recht auf Vergessenwerden? Dabei ist diese Frage aktuell wie eh und je. So zeigt der Fall der 20-jährigen Politikerin Sarah-Lee Heinrich in aller Schärfe, was es bedeutet, mit sozialen Netzwerken aufzuwachsen und sich Jahre später mit unüberlegten Postings aus der Jugend konfrontiert zu sehen. Dabei brauchen wir, um wachsen zu können, gerade in der Teenagerzeit einen geschützten Raum, der uns auch Fehltritte verzeiht – und nicht das latent über uns schwebende Damoklesschwert der ewigen Erinnerung. Dies gilt aber nicht nur für unsere Jugendtage.

Wir leben täglich in eigenen Widersprüchen, revidieren Überzeugungen und verändern uns. Ein solches Recht auf Veränderung ist Teil der uns grundrechtlich garantierten Freiheit zur persönlichen Entfaltung. Hieran knüpft das verfassungsrechtlich anerkannte „Recht auf Vergessenwerden“ an: Nur wenn wir in einem rechtlichen Rahmen leben, der uns die Chance eröffnet, Irrtümer und Fehler hinter uns zu lassen, ist eine freiheitliche Entwicklung und Veränderung der eigenen Persönlichkeit möglich. Das Recht auf Vergessenwerden schützt deshalb davor, dass sich eine Person frühere Positionen, Äußerungen und Handlungen unbegrenzt von der Öffentlichkeit vorhalten lassen muss. Oder, wie das Bundesverfassungsgericht sagt: „Die Möglichkeit des Vergessens gehört zur Zeitlichkeit der Freiheit.“

Insofern war es ein erstaunlich langer Weg bis zur Kodifizierung dieses Rechtsanspruchs. Nachdem sein griffiger Name bereits in den 2000ern vom Rechtswissenschaftler Viktor Mayer-Schönberg geprägt wurde, brauchte es bis zum Jahr 2014, um erstmals ausdrücklich in einem Urteil des EuGH bestätigt zu werden. Damals wandte sich der Spanier Mario Costeja Gonzáles gegen Google, um ein weit zurückliegendes, unliebsames Suchergebnis über ihn löschen zu lassen. Den EuGH im Rücken konnte das Recht auf Vergessenwerden schließlich im Jahr 2016 in der Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) erstmals gesetzlich festgeschrieben werden.

Um wen geht’s?

Sarah-Lee Heinrich wurde am 9.Oktober 2021 auf dem Bundeskongress der Grünen Jugend mit 93,84 Prozent zur neuen Vorsitzenden gewählt. Kurz darauf verbreiteten politische Gegner Bildschirmaufnahmen von Tweets der Politikerin, die kein Datum enthielten. In einem Tweet schrieb Heinrich „Heil“; in einem anderen von einer „eklig weißen Mehrheitsgesellschaft“, in weiteren benutzte sie „Tunte“ und „behindert“ als Beleidigung. Heinrich klärte darüber auf, dass sie diese Tweets im Alter von 13 und 14 Jahren veröffentlicht hatte – und entschuldigte sich: „Ich wurde gerade auf einen Tweet aufmerksam, in dem mein Account im Jahr 2015 ‚Heil‘ unter einen Tweet mit Haken-kreuz kommentierte. Das war maximal dumm und unangebracht.“ Der Tweet spiegele in keiner Weise ihre politische Position wider. Heinrich erhielt mehrere Morddrohungen und zog sich zunächst aus der Öffentlichkeit zurück.

Nemi El-Hassan wurde im September 2021 zur Moderatorin des WDR-Wissenschaftsformats Quarks nominiert. Daraufhin verbreiteten Rechte im Netz ein Foto, das die Journalistin 2014 auf dem antisemitischen al-Quds-Marsch in Berlin zeigt. Die Bild veröffentlichte diese Informationen. El-Hassan bezeichnete ihre Teilnahme als „Fehler“. Sie habe damit während des Gaza-Krieges ihre Solidarität mit Palästinensern ausdrücken wollen – mit dem Hintergrund des Marschs habe sie sich erst später genauer befasst. Sie verurteilte antisemitische Äußerungen, die von dem Marsch ausgingen, und verwies in der Süddeutschen auf ihre Entwicklung: „Der Mensch, der ich heute bin, hat nichts mehr mit dem Menschen von damals zu tun.“ Der WDR entschied, El-Hassan werde Quarks nicht moderieren – ausschlaggebend seien „problematische“ jüngere Likes von ihr im Netz. Sie könne aber im Hinter-grund für die Sendung arbeiten.

Doch so einfach ist es im Alltag nicht. Zum einen unterliegt das Recht auf Vergessenwerden juristisch einer Abwägung – vor allem, wenn ihm ein Interesse der Öffentlichkeit an den fraglichen Inhalten entgegensteht. Zum anderen wird nichts automatisch vergessen – es ist ein eigenes Aktivwerden notwendig. Sarah-Lee Heinrich hätte ihre Tweets selbst löschen müssen und im Falle der Nichteinräumung dieser Möglichkeit auf Löschung klagen können. Ebenso müsste sie nun jeder einzelnen Weiterverbreitung ihrer alten Tweets widersprechen und ihre Löschung verlangen.

Auch Daten können verfallen

An diesem Beispiel werden die Grenzen des Rechts auf Vergessenwerden sichtbar. Die digitale Welt dreht sich zu schnell, als dass Einzelne mit manuellen Löschungen der ewigen Erinnerung entkommen können. Letztlich bleibt also ein Stück Wahrheit an „Das Internet vergisst nie“: Inhalte werden automatisiert auf andere Server gespiegelt, Screenshots können jahrelang auf privaten Festplatten schlummern, und die Wirkkraft unserer Gesetze ist – anders als das Internet – auf die EU begrenzt. Der verfassungsmäßig garantierten Online-Amnesie werden wir bislang kaum gerecht.

Wir brauchen eine ganzheitliche „Kultur des Vergessens“ für das Internet. Von technischen Lösungen, wie etwa einem automatischen Verfallsdatum für Daten, über frühzeitig aufklärende Medienpädagogik bis hin zu einem verantwortungsvollen journalistischen Umgang mit „Shitstorms“. Und nicht zuletzt müssen wir uns selbst im Vergessen üben. Auch jahrelang zurückliegende und dann im Netz veröffentlichte Äußerungen haben nur geringen Erinnerungswert, wenn wir lernen, einander Veränderung zuzugestehen.

Jana Gooth ist Rechtsanwältin, wissenschaftliche Mitarbeiterin der Grünen EU-Abgeordneten Alexandra Geese und verhandelt zurzeit den EU Digital Services Act zu Haftungsvorschriften für digitale Dienste

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