Diese heutige Nähe zu Schaltzentren der Macht von Staaten und Wirtschaft hätten sich NGOs der siebziger Jahre nicht träumen lassen. Damals waren für die meisten NGOs staatliche Türen verschlossen, "Runde Tische" mit Firmenchefs in weiter Ferne und Medienschlagzeilen eine Ausnahme - es sei denn, Massendemonstrationen der Frieden- oder Ökologiebewegung sorgten für punktuelle Durchbrüche. Die sozialen Bewegungen sind inzwischen erlahmt, doch die NGOs als eine ihrer Formationen bewegen sich auf neuem Grund. Sind sie Ausdruck eines gestiegenen demokratischen Machtpotenzials zivilgesellschaftlicher Kräfte? Zweifel sind angebracht - das zeigt ein kuzer Blick auf das internationale politische und wirtschaftliche Umfeld, in dem sich NGOs bewegen.
Der NATO
Der NATO-Krieg gegen Jugoslawien hat die Weltpolizistenrolle der USA drastisch unterstrichen. Auf die EinwohnerInnen der Staaten mit den höchsten Einkommen - etwa ein Fünftel der Erdbevölkerung - entfallen 86 Prozent des globalen BIP, mehr als vier Fünftel der Exportmärkte, gut zwei Drittel der ausländischen Direktinvestitionen und 74 Prozent der Telefonanschlüsse. Das untere Fünftel, die ärmsten Länder, verfügt in jeder Kategorie lediglich über ein Prozent. Die Beschäftigungsverhältnisse überall auf der Welt werden arbeits-, sozial- und tarifrechtlichem Schutz immer mehr entzogen. Der "informelle Sektor" beschäftigt weltweit heute 500 Millionen Menschen und damit ein Viertel der Welterwerbsbevölkerung und erwirtschaftet einen Anteil von ca. 35 Prozent am Weltbruttosozialprodukt.Wo liegen heutige Chancen und Risiken für emanzipatorische Bestrebungen von zivilgesellschaftlichen Kräften? Das seit einigen Jahren eingeführte Instrument des "Verhaltenskodex" ist geeignet, diese Frage zu prüfen.Verhaltenskodizes sind von Unternehmen eingegangene Selbstverpflichtungen zur Umsetzung bestimmter Standards. Von den überwiegend in den neunziger Jahren verabschiedeten rund 200 Verhaltenskodizes thematisieren die meisten Sozialnormen, ökologische Standards und faire Geschäftspraktiken. Die Sozialnormen beziehen sich oft auf das Regelwerk der ILO-Konventionen. Die meisten Kodizes sehen nur eine unternehmensinterne Kontrolle vor.Einer kritischen Verbraucherbewegung in einigen Ländern des Nordens gelang es in den neunziger Jahren zunehmend, die Öffentlichkeit für die Forderung nach einer ökologischen und sozialverträglichen Produktion von transnationalen Konzernen zu sensibilisieren. Über weltweite Vernetzungen und elektronische Kommunikation von NGOs gelangen heute Nachrichten über Verletzungen von Minimalstandards bei der internationalisierten Produktion schneller an die Öffentlichkeit. NGOs bedürfen, um Schlagzeilen zu machen, weniger als vor 20 Jahren der Unterstützung einer relativ breiten Öffentlichkeit. Das Image von Unternehmen wird leichter angekratzt - was im verschärften globalen Wettbewerb bei stockender Nachfrage in den Hauptkonsumländern auch schnell ein ökonomisches Problem wird. VerbraucherInnen haben begonnen, "ethisch" einzukaufen. Unter "Ethik" wird dabei meist "Umweltbewusstsein", zunehmend aber auch "Dritte-Welt-Bewusstsein" verstanden.Werden die neuen Verhaltensnormen der Konzerne jedoch als Alternative zu gesetzlichen Regelungen verstanden, steckt in ihnen die Gefahr, der Privatisierung von Arbeits- und Sozialpolitik weiter Vorschub zu leisten. Zudem würden NGO-Netzwerke, die Verhaltenskodizes mit Konzernen abschließen, sich maßlos überschätzen, wenn sie deren Durchführung im gesamten Produktionsverlauf wirksam überwachen wollten. Der international führende Sportartikelhersteller Nike hat beispielsweise rund 13.000 Zulieferer in zahlreichen Ländern dieser Welt. Im Sog der globalen sozialen Abwärtsspirale sind viele Gewerkschaften gerade im Süden in den letzten Jahrzehnten geschwächt worden. Aufbau und Entfaltung von Gegenmacht gegen den gestiegenen antisozialen Einfluss von multinationalen Konzernen wie er mittels Verhaltenskodizes beabsichtigt ist, muss durch gesetzliche Maßnahmen von Staaten abgestützt und von überstaatlichen Einrichtungen gesichert werden.Ein Vorteil von Verhaltenskodizes besteht darin, dass sie Interessenvertretungen in Branchen erlauben, in denen Frauenarbeit überwiegt. Gewerkschaften haben Frauenarbeitsplatzprobleme selten ernst genommen. Durch die zunehmende Informalisierung von Beschäftigung wird gewerkschaftlicher Interessenvertretung der Boden entzogen. Das 1996 gegründete "Zentralamerikanische Netzwerk von Frauen in Solidarität mit den Arbeiterinnen in der Maquila" vertritt beispielsweise die Interessen von Frauen aus Guatemala, Honduras, El Salvador und Nicaragua, die Näherinnen in Maquilas (Weltmarktfabriken in "Freien Exportzonen") sind.Da Unternehmen der Textil- und Bekleidungsbranche in den neunziger Jahren von der europäischen "Kampagne für Saubere Kleidung" und der "Anti-Sweatshop-Bewegung" in den USA stark unter Druck gesetzt worden sind, haben diese nach anfänglicher Leugnung von Missständen, Diffamierung von NGOs, Drohung mit juristischen Schritten und mit Standortverlagerungen erhebliche Zugeständnisse gemacht. Voraussetzung für diese Zugeständnisse war eine erfolgreiche Mobilisierung der Öffentlichkeit, die über die politische Wirkung hinaus eine ökonomische Dimension erreichte.In der Bundesrepublik ist Bewegung auf dem Gebiet von Verhaltenskodizes mit Modemultis zu verzeichnen: nach monatelanger Blockadepolitik hat sich adidas-Salomon zu Gesprächen mit der hiesigen "Kampagne für Saubere Kleidung" bereitgefunden und den unternehmensinternen Verhaltenskodex von 1998 ansatzweise externer Kontrolle geöffnet. Auch der Otto Versand hat seinen internen Kodex von 1997 inzwischen weiter entwickelt und arbeitet mit einer US-Verbraucherorganisation an der Entwicklung des Zertifizierungsmodells "Social Accountability 8000". C hat Reserven gegen die Aufnahme von Gewerkschaftsrechten in seinen Verhaltenskodex inzwischen aufgegeben, hält aber nach wie vor an der unternehmensinternen Kontrolle fest.Das strategische Ungleichgewicht zwischen NGOs/Gewerkschaften und transnationalen Konzernen kann unter bestimmten Voraussetzungen verschoben werden: Das Bündnis von NGOs und Gewerkschaften im Nord-Süd-Verhältnis muss ausgeweitet werden; die Beschäftigten müssen an der Gestaltung von Wirtschafts- und Sozialpolitik beteiligt werden, indem sie die Kontrolle über die Umsetzung von sozialen Mindeststandards entlang der gesamten Zulieferkette von Konzernen ausüben; demokratische Strukturen im Innenverhältnis von NGOs und Gewerkschaften in Nord und Süd müssen transparent gehalten werden; Verhaltenskodizes sind bewusst als Ergänzung zu gesetzlichen Maßnahmen zu sehen, nicht als Ersatz für Gesetze.Bisherige Beiträge:Ausgabe 43: ParlamentarierAusgabe 43: Schön, wenn Kapitalparteien "erschöpft" wärenAusgabe 44: Locker bleiben!Ausgabe 46: Des Parteiengesetzes streichen Bündnis 90/Die GrünenAusgabe 47: Des Parteiengesetzes streichen Bündnis 90/Die GrünenAusgabe 48: FraktionszwangAusgabe 48: Fraktionszwang und GeschlossenheitAusgabe 50: Die Verhältnisse schreien nach VeränderungAusgabe 50: Absturz statt HöhenflugAusgabe 51: StandbeinsucheAusgabe 03: Der Staat und die ZivilgesellschaftAusgabe 03: Gewähren und entziehenAusgabe 04: Womit die Nichtregierungsorganisationen regierenAusgabe 05: Eine neue GesellschaftAusgabe 06: Hilfe aus dem Norden