Verkannte Minderheit

Umfrage unter Parlamentariern Allensbacher Meinungsforscher komplettieren den "Deutschland-Trend"

Nur alle paar Jahre haben wir normalen Bürger die Möglichkeit, unsere politische Meinung in einer Wahlentscheidung auszudrücken. Die Abgeordneten dagegen, die wir dann gewählt haben, können sich ständig im Parlament öffentlich zu Wort melden. Und mit unserem Mandat im Rücken können sie ihre Auffassung als die ihrer Wähler ausgeben. Schaut man auf die Sitzverteilung und Fraktionsstärken, so weiß man, welche Auffassungen in den Parlamenten vertreten werden, sollte man meinen. Eine Meinungsumfrage unter Parlamentariern, die ja eigentlich dafür bezahlt werden, Tag für Tag ihre Meinung als die unsere kundzutun, erscheint da so absurd wie ein Katechismusunterricht unter Kardinälen.

Die Bertelsmann-Stiftung glaubt das offenbar nicht. Deshalb hat sie beim Allensbach-Meinungsforschungsinstitut eine repräsentative Umfrage unter Parlamentariern in Auftrag gegeben. Und die Zweifel waren berechtigt, so stellt sich heraus. In der zentralen Frage der sozialen Gerechtigkeit in Deutschland vertreten die Abgeordneten völlig andere Auffassungen als die von ihnen vertretenen Wähler. Befragt wurde eine repräsentative Stichprobe von Abgeordneten aus Landtagen, dem Bundestag und dem Europaparlament.

Über alle Parteien hinweg sind gut 60 Prozent von ihnen mit der Verteilung von Einkommen und Vermögen in Deutschland hoch zufrieden. In der Bevölkerung sind das hingegen nur 28 Prozent. Das gibt die Bertelsmann-Stiftung auch freimütig bekannt. Dass 88 Prozent der Linkspartei-Vertreter die Vermögen ungerecht verteilt finden, erstaunt weniger, als dass fünf Prozent von ihnen die Verteilung von Besitz und Einkommen bei uns für völlig in Ordnung halten. Die Linke ist damit die einzige Partei, in der Parlamentarier und Wähler ungefähr das gleiche über die Verteilungsgerechtigkeit denken. Von den CDU/CSU-Mandatsträgern finden 83 Prozent die Verteilung gerecht, auch das wundert einen nicht, aber von ihren Anhängern sind es nur 38 Prozent. Ähnlich sieht es bei der SPD aus: Die Hälfte ihrer Abgeordneten ist mit dem Status quo bei den Vermögensverhältnissen zufrieden, aber nur ein Viertel ihrer Anhänger. Klar: Das Establishment - so hätte man früher gesagt - entfremdet sich von der Basis. Auch bei den Grünen. Bei ihnen glaubt die etablierte Basis zu mehr als einem Viertel, dass der Unterschied von Oberstudienratsgehalt und Anwaltseinkünften zu Hartz IV in Ordnung geht, während sich nur 14 Prozent bei den politisch korrekten grünen Abgeordneten zu dieser Auffassung bekennen.

Die Bertelsmänner sind mit den Abgeordneten zufrieden. Denn die - vor allem die jungen - denken modern, stellen die Lobbyisten aus Gütersloh fest. Für die Mehrheit der Mandatsträger hat soziale Gerechtigkeit nichts mit Hilfe für sozial Schwache zu tun, sondern mit der Möglichkeit, an Bildung und Arbeit teilhaben zu können, und diese Chance hat ja fast jeder, glauben sie. Dennoch halten die Volksvertreter parteiübergreifend das skandinavische Wohlfahrtsstaatsmodell für beispielhaft, während selbst weite Teile der CDU-Vertreter das Modell der US- Gesellschaft ablehnen.

Was sollte sich bei uns ändern? Eine parteiübergreifende Mehrheit meint, dass Krankenkasse und Rente stärker über Steuern finanziert werden sollten. Aber zugleich wollen noch mehr Parlamentarier die Steuern und Abgaben senken. Da kann man schon fast Mitleid mit den Finanzministern bekommen, die sich mit einem politischen Kindergarten herumplagen müssen, mit Abgeordneten, die nicht verstanden haben, dass mehr Ausgaben auch aus irgendwelchen Steuern und Abgaben finanziert werden müssen.

Jedenfalls haben wir den Allensbacher Demoskopen der Bertelsmann-Stiftung zu danken, dass sie endlich einmal die Meinung der Abgeordneten, dieser offenbar verkannten Minderheit, erforschen ließen. In den öffentlichen Reden im Parlament oder gar aus Parteiprogrammen erfährt man sie ja offenbar nicht. Die Tagesthemen sollten regelmäßig nicht nur einen "Deutschlandtrend" veröffentlichen, sondern einen "Abgeordnetentrend", damit wir regelmäßig erfahren, was die von uns Gewählten so denken.


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