Die Serie Industry ist eine Seifenoper aus der Arbeitswelt junger Investmentbanker; es geht darum, wer mit wem ins Bett geht und wer auf der letzten Weihnachtsfeier wie viel Koks vom Hinterteil welches Vorgesetzten geschnupft hat. Alltagskram also, Sie wissen schon. Einmal im Jahr grast die Londoner Bank Pierpoint & Co. das Feld der Eliteuni-Absolventen ab und stattet sie mit Trainee-Verträgen aus. Am Ende der Probezeit gibt es fünfstellige Boni für die Überflieger. Etwa die Hälfte der Anwärter wird jedoch auf den Arbeitsmarkt der Normalsterblichen entlassen. Die Stimmung im Büro ist entsprechend bombig.
Fünf angehende Banker scheinen im Fokus der Serie von Mickey Down und Konrad Kay – beide haben vor dem Bankencrash von 2008 selbst im Finanzwesen gearbeitet – zu stehen, einer der Newcomer liegt jedoch schon am Ende der ersten Folge (Regie: Lena Dunham) leblos auf der Bürotoilette – er hat sich buchstäblich zu Tode gearbeitet. Also verbleiben die ehrgeizige Aufsteigerin Harper (Myha’la Herrold), die ihr Abschlusszeugnis gefälscht hat, das verzogene rich kid Robert (Harry Lawtey), das mauerblumige rich kid Yasmin (Marisa Abela) und der ambitionierte Gus (David Jonsson), der als Schwarzer und schwuler Eton-Absolvent die Diversity-Statistiken der Bank aufhübschen soll.
Die vier Hauptfiguren von Industry stehen in Konkurrenz zueinander, knüpfen aber doch so etwas wie Freundschaften. Was sie eint, ist die Angst vor Versagen und Vorgesetzten, die Betäubung der Angst mit allerlei Drogen sowie eine möglichst abenteuerliche Ausgestaltung ihrer jeweiligen Sextriebe. After-Work-Exzesse verschwimmen mit dem nächsten Arbeitstag, Kater und Erschöpfung werden mit Aufputschmitteln aus der Schreibtischschublade wohlmeinender Kollegen bekämpft. Der Tod des neuen Mitarbeiters ist so schnell vergessen, wie er sich ereignet hat.
Industry berichtet also aus einem Milieu, das auch die ZDF-Produktion Bad Banks in bisher zwei Staffeln erkundet hat. Die Branche ist verkorkst und verkokst, ihre Drahtzieher (und wenigen -zieherinnen) agieren ohne Skrupel, und natürlich hat auch die Finanzkrise niemandem die Augen geöffnet. Während sich Bad Banks jedoch schnell von dieser unterkomplexen Ausgangslage verabschiedet und als Verschwörungsthriller in höchste Ebenen aufschwingt, bleibt Industry im wahrsten Sinne des Wortes on the floor – dort also, wo die Bildschirme unentwegt flimmern, immerzu irgendein Telefon klingelt und die wahre Drecksarbeit verrichtet wird.
Alkoholikerschweiß
Fast jede der acht Folgen enthält einen Moment, in dem es um tatsächliches Investmentbanking geht, immer dann nimmt Industry Tempo auf. Unverständliche Begriffe fliegen durch den Raum, Banker brüllen einander an, ihr Alkoholikerschweiß vermischt sich mit Arbeitsschweiß, und am Ende hat jemand viel Geld verdient oder verloren. Dass die Serie diese Momente zeigt, aber nicht erklärt, gehört zu ihren Stärken. Plötzlich fühlt man sich so verloren wie das Industry-Personal: Der Druck, der auf den Neuankömmlingen lastet, wird nachvollziehbar, aber auch die Adrenalinschübe, die sie aus gelungenen Deals ziehen. Wo andere Serien ihre Charaktere als Sympathieträger anlegen, macht Industry sie zu Identifikationsfiguren.
Auch auf dem Londoner Finanzparkett stinkt der Fisch natürlich vom Kopf her. Industry aber zeigt vor allem, welche Auswirkungen Turbokapitalismus und Heuschreckenmentalität im Kleinen haben. Das Arbeitsumfeld ist völlig vergiftet, private und berufliche Grenzen haben sich längst aufgelöst. Banker in Führungspositionen schöpfen aus den vollen Mitteln toxischer und fragiler Männlichkeit, sie leiten ihre Teams mit Lautstärke, Leistungsdruck, Einschüchterung und Bloßstellung. Allzu schnell färbt dieses Verhalten auf die Job-Einsteigerinnen ab. Als es zu Komplikationen bei ihrer täglichen Salatbestellung kommt, faltet die eigentlich so zurückhaltende Yasmin einen Kellner zusammen. Sie tritt genauso vehement nach unten, wie es ihre Vorgesetzten vorleben.
Englische Medien haben Industry bereits mit diversen Klassikern des Workplace- und Coming-of-Age-Fernsehens verglichen: von der Anwältinnen-WG aus This Life (1996) bis hin zu Succession (2018). Mit seiner Freude an gegenseitiger Erniedrigung offenbart das Industry-Personal aber auch eine überraschende Verwandtschaft mit den Comedy-Versionen wie The Office. Schon dort dienten die Zweckbündnisse der Figuren und deren Verrat dem persönlichen Machterhalt. Zugleich erwies sich jede erfolgreiche Intrige als systemerhaltend.
Wie auch in The Office ist der Büroalltag in Industry ebenso ent- wie hyperpolitisiert. Die Erwähnung des Brexits ist ähnlich verpönt wie der Name Voldemort in den Harry-Potter-Büchern. Als letzte Premierministerin, der sich die Pierpoint-Bosse verbunden fühlten, wird Margaret Thatcher in der ersten Folge zur Jesusfigur verklärt. Dabei erscheint das Desinteresse der Banker weniger als Zeichen ihrer Ignoranz denn als Schutzmechanismus. Wer sich ununterbrochenen machtpolitischen Spielen am Arbeitsplatz ausgesetzt sieht, kann nicht auch noch auf dem Schirm haben, welche Regeln des Bankgeschäfts gerade in Brüssel oder einige Straßen weiter in Westminster gekippt werden.
In Industry bekommen das vor allem Harper und Gus zu spüren. Noch mehr als ihre Mitstreiter werden die Schwarzen Hauptfiguren der Serie zu Opfern von sexuellen und büropolitischen Übergriffen. Ihre Lektion lernen beide ebenso schnell wie Yasmin an der Salatbar: Es gibt keine Aussicht auf Rache oder gar Gerechtigkeit in Industry. Es gibt nur die Möglichkeit, erfahrene Diskriminierungen als Verhandlungsmasse zu gebrauchen. Ein zynisches Weltbild, aber aufregend anzuschauen.
Info
Industry Mickey Down, Konrad Kay GB/USA 2020; 8 Folgen; zu streamen auf Sky
Kommentare 19
Der Autor hat völlig Recht, diese "Auswüchse" gibt es in einigen Sphären:"...Industry aber zeigt vor allem, welche Auswirkungen Turbokapitalismus und Heuschreckenmentalität im Kleinen haben. Das Arbeitsumfeld ist völlig vergiftet, private und berufliche Grenzen haben sich längst aufgelöst. Banker in Führungspositionen schöpfen aus den vollen Mitteln toxischer und fragiler Männlichkeit, sie leiten ihre Teams mit Lautstärke, Leistungsdruck, Einschüchterung und Bloßstellung."Doch wage ich die Unterstellung, dass der Autor diese Auswüchse in einigen Sphären auf der Gegenseite nie thematisieren würde. Beschreiben wir die Auswüchse im Sozialismus, wie wir ihn erleben durften: Die Partei und die Parteiführung hat immer Recht. Konnte sich über Gesetze hinwegsetzen und als abgehobene Kaste, abgeschirmt von der Wirklichkeit, leisten, was sie wollte. Sogar über Leichen gehen dabei.
Gab es bisher einen Sozialismus nach eigener Ausrufung, bei dem dies NICHT so gekommen ist??!!Es mag an mir liegen...Aber ich lese und studiere alle Seiten, Links, Mitte, Konservativ.Was würde ich darum geben, wenn mal die eine Seite die Fehler und Auswüchse der eigenen Seite auch beschreiben würde. Wie kämen wir weiter!Was würde die Glaubwürdigkeit wachsen, wenn ich diese Kritik hier bei den "Konservativen" lesen würde. Was würde die Glaubwürdigkeit wachsen, wenn ich hier die gleichen Phänomenbeschreibungen des Sozialismus finden könnte.Doch immerzu sieht die eine Seite nur die Fehler auf der anderen Seite. Und bevor sich die Seite "hier" echauffiert: ich kritisiere alle Seiten, alle! Keine tut dies ausreichend.
Also erstmal können diese Fehler nicht beschrieben werden, weil es sie nicht gab – frei nach dem Motto: Vor der Fehlerbeschreibung muß erst mal der Fehler stehen. Die Fehler des menschenverachtenden Neoliberalismus sind jedoch immanent. Mit anderen Worten: Sie sind so zahlreich wie Sandkörner an einem Meeresstand (genau genommen sogar: wie die Summe aller Sandkörner an allen Meeresstränden zusammengenommen).
Darüber hinaus glaube ich mich zu erinnern, dass es sowas wie sozialistische Selbstkritik auch mal gegeben hat. Mit anderen Worten: Das System ist validisiert und beinhaltet bereits eine Kontrolle zur Behebung möglicher Fehler. Der Neoliberalismus hingegen dreht einfach hohl – wie es ja auch in der Serie anschaulich dargestellt wird.
Man könnte allenfalls die Frage aufwerfen, wieso eine kapitalistische Produktion wie HBO ein derart zersetzendes Werk überhaupt auf den Markt bringt. Auch dazu gibt es eine Antwort: Ich glaube Trotzki hat einmal gesagt, dass der Kapitalismus seinen Henkern am Ende sogar den Strick verkauft, an dem er am Ende landet.
Muss ich nicht sehen, glaube ich. Wirkt verkrampft divers. Und auch sonst. Da ist mir „Wolf of Wallstreet“ lieber. Und natürlich „The Big Short“. Nebenbei noch „Wall Street“ mit Michael Douglas, das Original.
Sehenswert dürfte erst wieder eine mögliche Serie (oder ein Film) über das Phänomen Wallstreetbets et al. sein, wie sie Netflix offenbar angekündigt hat.
“Auch dazu gibt es eine Antwort: Ich glaube Trotzki hat einmal gesagt, dass der Kapitalismus seinen Henkern am Ende sogar den Strick verkauft, an dem er am Ende landet.“
Das Trotzki-Zitat höre ich jetzt schon zum zweiten Mal in dieser Woche. Das erste Mal in einem Radiokommentar zum Game Stop-Aktien-Coup. Und ja, das macht den Kapitalismus aus: Er usurpiert alles. Wie lang ist es her, 20 Jahre etwa, als Che Guevara-Shirts bei H&M hingen und die Gymnasiasten aus den Vorstadt-Mittelschichtssiedlungen mit Befreiungskämpfer-Leibchen rumliefen? Und alle Welt kauft heute wie blöd online bei amazon, Zalando & Co. infolge dessen jetzt mehr und mehr Entlassungswellen anrollen.Zunächst verkauft der Kapitalismus uns allen erst einmal die Stricke, mit denen wir uns selbst strangulieren.
Ja. Wie es Götz Widmann in »Che Guevara« so schön besingt:
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Okay – der ging in die Hose: also normal.
***** Sehe ich auch so.
Nebenbei, wer von 15 - 30 gekockst hat ohne Straffaellig geworden zu sein weiss schon ein bisserl was die im Hirnchen haben.
;-)
Geht doch, Daumen hoch ***** +++++
Muß noch ein bißchen üben, damit das auch sitzt :-).
Echte Verbrecher. Serie geht in Ordnung.
Netflix ist schon dran. Das ging ja unglaublich schnell!
Diese Klasse von Koksern hat andere Quellen, als der Fixer auf der Strasse. Oder der kleine Mann von nebenan, der ordentlich mal einen draufmacht in einem Club. Erstere snieffen puros, die Anderen bis zu 90% gestrecktes Pulver.
Ich war gut versorgt, Dank Daddy, 80% das Zeuch..., nur mit den Hausaufgaben und Zaehneputzen hat er es nicht so genau genommen.
;-)
Und mit Netflix, na ja, bei gefuehlten einer Milliarde Kunden a 10 Euro im Monat kannst du sowohl Drehbuchtechnisch als auch was die Produktionsmittel angeht aus dem vollem Schoepfen, oder?
Ruckizucki
:-)
Dank Daddy..!? Also ich hatte auch nie Probleme, an guten Stoff heran zu kommen: Justizverbindungen :-) Einmal, in Zürich, kurz nach der Schliessung vom weltweit berühmt-berüchtigten Platzspitz (der sog. „offenen Drohenszene“) hat ein Dealerring aus der Karibik aus Protest gegen die einstürzenden, äh, Umsätze, beschlossen, das Kokain mit Atropin zu versetzen. Zur Info: Die schweizer Armee hat lange Atropinspritzen jm Sortiment gehabt. Bei einem Angriff mit Chemiewaffen hätte man sie in den Oberschenkel rammen sollen, item: Da war Zürich plötzlich voll von Leuten, die an schwersten Halluzinationen gelitten haben und mehr als 24 Stunden nicht mehr herunter gekommen sind. Diese z. T. schwerst Halluzinierten traf man auch in der Clubszene an. Das war ein Bild, sag‘ ich dir. Ein Fixer, den ich kannte, wurde danach clean und hat sich geschworen, Drogen den Rest seines ganzen Lebens nie wieder anzufassen!
Ja, Netflix wird da aus dem Vollen schöpfen können. Wird sicher lustig!
@Richerad ZietzAlso möglicherweise leben wir ja in einer anderen Welt... Aber die Fehler der bisherigen Sozialismus-Ausrufungen und Formen zu verleugnen kann ich nicht nachvollziehen.Dann könnten wir auch "streiten", die Erde wäre eine Scheibe.Dürfen Sie meinen. Ich steige dabei aus. Und um Mißverständnissen vorzubeugen: Ich hatte geschrieben, JA, diese Zustände gibt es. Immer, wo Menschen Macht über andere haben, ob via Geld oder via Staatsmacht, kam das bisher vor.Also schauen wir darauf - aber ohne Scheuklappen. Benennen wir es für alle Seiten.
Hier wird eine englische Serie beschrieben. Es geht um junge Banker, die mit Aktien zocken. Ähnlich wie in "Bad Banks" Wie wir wissen hat das mit der Realwirtschaft nichts zu tun. Durch das Roulette an der Börse können ganze Volkswirtschaften pleite gehen. Wie es aussieht, wird aber das hier nicht beschrieben. Geht man nicht in die Tiefe. Schildert die Börsianer. Spannung vielleicht. Aufregen über die Verhaltensweisen. Verständnis haben von der Schwere dieses Jobs. Aber wenn es um viel Geld geht, ist das so?!
Ärgert das Sie, dass das beschrieben wird und ein wenig der Kapitalismus kritisiert wird?
Ihren Schwenk zum Sozialismus kann ich an dieser Stelle nicht ganz verstehen.
Oder soll hier mal jemand Vergleiche ziehen? Sie bringen den Slogen die Partei und die Parteiführung hat immer recht. Das war dann damals auch der Staat, der recht haben wollte.
Und heute? Ist das anders?
@Gerd-Christian K.Nein, mich ärgert gar nichts, ich leite meinen Erstkommentar ein damit, "der Autor hat Recht" und so weiter.Ich wünsche mir nur Ausgewogenheit. Im Subtext schwingt, zumindest für mich, mit, dass "sowas", so ein Machtmißbrauch (aufgrund von Geld) "NUR" im sogenannten Kapitalismus möglich ist. Und hier erlaubte ich mir den Hinweis: Nö, gäbe auch genügend Machtmißbrauchsbeispiele auf anderen Seiten.Verstehen Sie meinen Gedanken nun besser?
Danke für die Antwort. Versuch Sie zu verstehen. Sie wollen Ausgewogenheit in den Beiträgen. Prinzipiell richtig. Aber das war doch hier mehr ein Kulturkommentar zu einer Serie bei Netflix. Und da kann man sagen, entspricht das dem real existierendem Kapitalismus? Gut gemacht. Spannend. Oder auch nicht. Hier wurde nichts mit zurückliegenden Zeiten verglichen.
Könnte man machen. Ist aber aktuell sehr unbeliebt. Es geht ja aktuell nur um unsere Gesundheit? Aber wenn dazu jemand eine Diskussion aufmachen will, müsste ein anderer Artikel als Grundlage stehen. Das Thema der Serie ist ja bekannt und real, eigentlich Schnee von gestern.