Während Großbritannien immer weiter der Austeritätspolitik verfällt, setzt Premierminister David Cameron verzweifelt auf die nationale Karte. Dabei ist ihm jeder Anlass recht. Das Thronjubiläum der Queen und die Olympischen Sommerspiele hat er bereits ausgeschlachtet. Nun, da wir uns dem Jahr 2014 nähern, wünscht sich Britanniens Premier ein „wahrhaft nationales Gedenken“ an den Ersten Weltkrieg. 50 Millionen Pfund wurden aufgestöbert, um Schützengrabenbesuche für Schulen und eine ambitionierte Neugestaltung des Imperial War Museum zu finanzieren. „Hurra-Patriotismus“ werde es nicht geben, hat die Regierung versprochen. Cameron will aber derjenigen gedenken, die „ihr Leben für unsere Freiheit gegeben haben“, und dafür sorgen, dass die Lehren, die daraus gezogen wurden, „für immer in uns fortleben.“
Nur für den Fall, dass es Zweifel geben könnte, welches diese Lehren sind, hat die Times erklärt, die britische Sache sei „trotz des unglücklichen Rufes“, den dieser Weltkrieg habe, eine „grundsätzlich gerechte“ gewesen. Es habe sich um eine notwendige Reaktion auf die Aggression einer „expansionistischen, „xenophoben, antidemokratischen Macht“ (Deutschland) gehandelt. Wer zwischen 1914 und 1918 kämpfte, hätte dies getan, um das „Prinzip der Verteidigung kleiner Nationen“ aufrechtzuerhalten.
Feldscher an der Westfront
Sollte man sich nicht zuerst daran erinnern, dass dieser Weltkrieg eine unglaubliche Katastrophe war? 16 Millionen Menschen haben ihn nicht überlebt, darunter beinahe eine Million Briten. Es gab auf der Insel keine Familie, die nicht davon berührt wurde. Meine Großmütter haben während des vierjährigen Blutvergießens jeweils einen Bruder verloren: Einer starb in Flandern, der andere in Gaza. Jahrzehnte später brach eine davon noch in Tränen aus, wenn sie daran dachte, wie in Edinburgh der Postbote die Todesnachricht in einem braunen Couvert des Kriegsministeriums zugestellt hatte. Auch meinen Großvater konnte die Erinnerung übermannen. Er war Feldscher an der Westfront und brach seelisch zusammen, wenn er uns Fotos aus dem zerstörten Ypern oder von der Marne zeigte, auf denen man seine gefallenen Freunde sah. Er erzählte uns, wie er der Selbstverstümmelung beschuldigte Soldaten vor dem Erschießungskommando gerettet hatte.
Man tut absolut nichts für das Gedenken an die Opfer, wenn man die entsetzliche Realität des Ersten Weltkrieges schönfärbt. Dessen Schlachten waren von bis dahin unbekannter Brutalität. Soldaten in dieses Gemetzel zu hetzen, bezeugte moralische Verkommenheit. Für die herrschenden Klassen Europas kam es allein darauf an, sich ein imperiales Übergewicht zu verschaffen. Wladimir Iljitsch Lenin schrieb 1917 an den rumänischen Dichter Valeriu Marcu: „Ein Sklavenhalter – Deutschland – kämpft mit England, einem anderen Sklavenhalter, um eine gerechtere Verteilung der Sklaven.“ Da war keine Selbstverteidigung im Spiel, bei der es um die Befreiung von Tyrannei ging. Wie es der Historiker Eric Hobsbawm in seinem Buch Das imperiale Zeitalter darlegte, war der Erste Weltkrieg das Resultat einer Konfrontation zwischen den europäischen Großmächten Großbritannien und Frankreich auf der einen sowie der aufstrebenden Imperialmacht Deutschland auf der anderen Seite. Die hatte es auf einen „Platz an der Sonne“ abgesehen. Es ging um kolonialen Besitz, Märkte und Ressourcen. Bei diesem Clash der Imperien verschlang Europa seine Kinder und mit ihnen viele kolonisierte Völker.
Angesichts einer alles zerstampfenden Maschinerie des industriellen Krieges im 20. Jahrhundert und der gigantischen Materialschlachten kann der absurde Vorwand, es sei um die Rechte der kleinen Nationen und die verletzte Neutralität des „tapferen kleinen Belgiens“ gegangen, nicht ernsthaft zur tatsächlichen Triebfeder des Krieges erklärt werden. Die Politiker damals taten dies übrigens auch nicht. Alle Kriegsparteien waren für die Unterdrückung kleiner wie großer Nationen verantwortlich. In den Jahren unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg wurden Schätzungen zufolge zehn Millionen Kongolesen durch Zwangsarbeit und Massenmord zu Opfern der „tapferen kleinen“ belgischen Kolonialmacht. Und deutsche Kolonialisten betrieben systematischen Genozid an den Völkern der Herero und Nama im heutigen Namibia. Millionen Menschen starben im britisch beherrschten Indien bei verheerenden Hungersnöten, die häufig künstlich herbeigeführt wurden – auf jeden Fall aber vermeidbar gewesen wären. In Südafrika richtete die britische Kolonialmacht sogar Konzentrationslager ein und bedachte auch den Rest ihres Empires mit ähnlich gewalttätiger Repression. Lachhaft ist die Vorstellung, dieser Krieg sei eine Art Kreuzzug für die Demokratie gewesen, während dem Großteil der britischen Bevölkerung – den Frauen sowieso, aber auch vielen Männern – seinerzeit noch nicht einmal das Wahlrecht zugestanden wurde. Als der damalige US-Präsident Woodrow Wilson sich das Recht zur nationalen Selbstbestimmung auf die Fahnen schrieb, um den Frieden zu gewinnen, galt das selbstverständlich nur für Europäer, nicht aber für die kolonisierten Völker, die von eben jenen Europäern herumkommandiert wurden.
Britannien war nicht bedroht
Weil mit den Materialschlachten eine allmähliche Erschöpfung aller Ressourcen einsetzte, führte das ab 1917 zu Arbeiteraufständen und Revolutionen. Der baldige Kollaps besiegter Imperien wie Deutschland und Österreich-Ungarn verschaffte antikolonialen Bewegungen enormen Antrieb. Doch sei nicht vergessen, der Ausgang des Krieges bereitete letzten Endes den Boden für den Aufstieg des Faschismus und einen noch grauenhafteren Zweiten Weltkrieg, der unter anderem eine neue imperialistische Zerteilung des Nahen Ostens begünstigte. Deren Folgen – etwa die palästinensische Tragödie – sind bis heute spürbar.
Anders als im Jahr 1940 war Großbritannien 1914 nicht von einer Invasion oder Besatzung bedroht. Für die Völker Europas resultierte die Kriegsgefahr eher aus den Machenschaften ihrer Herrscher als aus atavistischer Tyrannei. Die Toten waren daher zuallererst Opfer von Imperien, die ein Schandfleck für die Menschheit waren – sie wurden zu Opfern des Zynismus der politischen Klasse und der Torheit einer gnadenlosen Generalität. Harry Patch, der letzte Brite, der die Schützengräben überlebt hat und vor drei Jahren starb, nannte den Ersten Weltkrieg „nichts Besseres als legalisierten Massenmord“.
Seit den neunziger Jahren sind die Begehrlichkeiten der Großmächte, die ihren infernalischen Höhepunkt in den beiden Weltkriegen fanden, durch eine moderne Form von Kolonialkriegen ersetzt worden, deren Schauplätze Irak, Jemen, Mali oder Afghanistan heißen. Wenn es der britischen Regierung nicht gelingt, die Sympathie der Öffentlichkeit für derartige Feldzüge zu gewinnen, setzt sie auf das Mitgefühl der Nation für die Soldaten. Etwa mit dem Verlangen, „Nationalstolz“ zu zeigen, und oder mit der Aufforderung, den 11. November, den Gedenktag für die Kriegstoten der Jahre 1914 bis 1918, würdig zu begehen.
Sollten Premier David Cameron und seine Minister versuchen, 2014 dieses Erinnern mit besonderer Inbrunst zu betreiben, wäre das eine widerwärtige Travestie. Zu den wirklichen Lehren dieses Weltkrieges zählt die Erfahrung, dass Imperien in jeder Form immer zu Blutvergießen führen, dass staatliche Gewalt die bei weitem zerstörerischste ist – Militarismus und Chauvinismus ins Verderben führen. Feiern sollte man stattdessen die Internationalisten, die Sozialisten und Dichter, die damals die Dinge beim Namen genannt haben. Gedacht werden sollte des Leids der Soldaten, statt an die Feiglinge zu erinnern, die sie in den Tod geschickt haben. Versuche, das Gedenken an die dunklen Jahre von 1914 bis 1918 zu kapern, müssen unbedingt abgewehrt werden.
Seumas Milne ist Kolumnist des Guardian Übersetzung: Zilla Hofman
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